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Die Schopenhauer-Kur

Die Schopenhauer-Kur

Titel: Die Schopenhauer-Kur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irvin D. Yalom
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Schachwunderkinder Bobby Fisher und Paul Murphy? Oder denken Sie an Raoul Capablanca, der mit elf Jahren die kubanische Schachmeisterschaft gewann.
    Zu guter Letzt möchte ich mich einem literarischen Debüt zuwenden – dem glänzendsten Debüt aller Zeiten, einem Mann Mitte zwanzig, der die Welt der Literatur mit einem großartigen Roman entflammte . . .«
    Hier hielt Philip inne, um die Spannung zu steigern, und blickte auf, sein Gesicht strahlte vor Selbstvertrauen. Er hatte keine Zweifel an dem, was er tat – das war offenkundig. Julius schaute ungläubig zu. Was erwartete Philip? Dass die Studenten, zitternd vor Neugier, auf ihren Plätzen nach vorn rutschten und murmelten: »Wer war dieses literarische Wunder?«?
    Julius drehte sich in seiner fünften Reihe um und inspizierte das Auditorium: überall glasige Augen, Studenten, in ihren Sitzen zusammengesackt, die vor sich hinkritzelten, in Zeitungen oder Kreuzworträtsel vertieft waren. Links von ihm hatte sich einer zum Schlafen über zwei Sitze ausgestreckt. Rechts verharrte ein Pärchen am Ende der Reihe umschlungen in einem langen Kuss. In der Reihe direkt vor ihm stießen sich zwei Jungen an, während sie nach oben spähten. Trotz seiner Neugier drehte sich Julius nicht um, um ihren Blicken zu folgen – wahrscheinlich guckten sie einer Frau unter den Rock –, sondern wandte seine Aufmerksamkeit Philip zu, der leierte:
    »Und wer war das Genie? Es hieß Thomas Mann. Als er in Ihrem Alter war, ja, in Ihrem Alter, fing er an, ein Meisterwerk zu schreiben, einen prachtvollen Roman mit dem Titel Buddenbrooks , der veröffentlicht wurde, als er erst sechsundzwanzig war. Thomas Mann wurde, wie Sie hoffentlich wissen, eine überragende Figur in der literarischen Welt des 20. Jahrhunderts und erhielt den Nobelpreis für Literatur. ( An dieser Stelle buchstabierte Philip seinem Tafelschreiber M-a-n-n und B-u-d-d-e-n-b-r-o-o-k-s vor .) Buddenbrooks , erschienen 1901, zeichnet das Leben einer gutbürgerlichen deutschen Familie über vier Generationen und die damit verbundenen Wechselfälle nach.
    Was hat das nun mit Philosophie und dem eigentlichen Thema unserer heutigen Vorlesung zu tun? Wie ich versprochen habe, bin ich zwar ein bisschen abgeschweift, aber nur, um jetzt mit umso mehr Nachdruck auf den Kern der Sache zu kommen.«
    Julius hörte im Auditorium Rascheln und den Klang von Schritten. Die beiden Voyeure direkt vor ihm suchten geräuschvoll ihre Habseligkeiten zusammen und verließen den Saal. Das Liebespärchen am Ende der Reihe hatte sich verzogen, und sogar der für die Tafel vorgesehene Student war verschwunden.
    Philip fuhr fort:
    »Für mich befinden sich die bemerkenswertesten Passagen der Buddenbrooks recht weit hinten im Roman, als der Protagonist, das Familienoberhaupt, der alte Thomas Buddenbrook, sich dem Tode nähert. Man staunt über einen Schriftsteller, der mit Anfang zwanzig einen solchen Scharfblick hat und so viel Sensibilität für Fragen, die mit dem Lebensende zu tun haben. ( Ein schwaches Lächeln umspielte Philips Lippen, als er ein eselsohriges Buch
hochhielt .) Ich empfehle diese Seiten jedem, der beabsichtigt zu sterben.«
    Julius hörte das Zischen von Streichhölzern, mit denen zwei Studenten sich Zigaretten anzündeten, während sie das Auditorium verließen.
    »Als der Tod an seine Tür pochte, war Thomas Buddenbrook bestürzt und überwältigt von Verzweiflung. Keines seiner Glaubenssysteme bot ihm Trost – weder seine religiösen Überzeugungen, die seine metaphysischen Bedürfnisse schon lange nicht mehr befriedigten, noch sein weltlicher Skeptizismus und sein Hang zu Materialismus und Darwinismus. Nichts konnte ihm Trost verschaffen.«
    An dieser Stelle schaute Philip auf. »Was als Nächstes geschah, ist äußerst wichtig, und hier beginne ich auch, das für heute Abend vorgesehene Thema enger einzukreisen.«
    »In seiner Verzweiflung zog Thomas Buddenbrook aus seinem Bücherregal zufällig einen preiswerten, schlecht geklebten Philosophieband hervor, den er vor Jahren an einem Stand mit gebrauchten Büchern gekauft hatte. Er fing an zu lesen und fühlte sich sofort beschwichtigt.
    Die außerordentliche Klarsichtigkeit des philosophischen Textes fesselte den Sterbenden, und Stunden verstrichen, ohne dass er von seiner Lektüre aufsah. Dann stieß er auf ein Kapitel mit der Überschrift »Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich« und las, berauscht von den Worten, weiter,

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