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Die Schopenhauer-Kur

Die Schopenhauer-Kur

Titel: Die Schopenhauer-Kur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irvin D. Yalom
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wahrgenommen wurden. Dasselbe passierte in Familien. Vielen seiner Patienten, die Fortschritte gemacht hatten, fiel es sehr schwer, ihre Eltern zu
besuchen: Sie mussten sich dagegen wehren, wieder auf ihre alte Rolle festgenagelt zu werden, und beträchtliche Energie aufwenden, um Eltern und Geschwister davon zu überzeugen, dass sie sich tatsächlich geändert hatten.
    Julius’ großes Experiment seiner eigenen Neuerfindung begann mit dem Umzug seiner Familie. An jenem ersten Schultag in Washington, D. C., einem milden, spätsommerlichen Septembertag, hielt er, während seine Schritte durch das heruntergefallene Platanenlaub knirschten und er durch die Eingangstür der Roosevelt High ging, Ausschau nach einer genialen Veränderungsstrategie. Als er die Plakate vor der Aula bemerkte, auf denen die Kandidaten für das Amt des Schulsprechers angekündigt wurden, kam ihm eine Eingebung, und noch ehe er wusste, wo sich die Jungentoilette befand, hatte er schon seinen Namen für die Wahl eingetragen.
    Die Wahlbewerbung war eine riskante Sache, mehr als riskant  – Julius’ Chancen standen schlechter als die der unbeholfenen Washington Senators mit ihrem verkniffenen Manager Clark Griffith, vom letzten Platz nach oben zu rücken. Er wusste nichts über die Roosevelt High und hatte noch keinen einzigen Klassenkameraden kennen gelernt. Hätte sich der alte Julius aus der Bronx um das Amt beworben? In tausend Jahren nicht. Aber das war der Punkt: Genau aus diesem Grund ging der neue Julius das Wagnis ein. Was konnte denn schlimmstenfalls passieren? Sein Name wäre in aller Munde, und jeder würde in Julius Hertzfeld eine politische Kraft erkennen, einen potenziellen Anführer, einen Jungen, mit dem man rechnen musste. Überdies liebte er die Dramatik des Ganzen.
    Seine Gegner würden ihn natürlich als schlechten Witz abtun, als Wicht, als unbekannten Niemand. Da er Kritik erwartete, bereitete Julius sich mit einem Spruch über die Fähigkeit eines Neuankömmlings darauf vor – nämlich in der Lage zu sein, Fehlentwicklungen zu erkennen, die nicht zu sehen waren für jene, die der etablierten Macht zu nahe waren. Er hatte ein flottes Mundwerk, geschult durch lange Stunden auf der
Bowlingbahn, in denen er Dummköpfe zu Wetten überredet hatte. Der frischgebackene Julius hatte nichts zu verlieren und schlenderte furchtlos auf Gruppen von Schülern zu, um zu verkünden: »Hallo, ich bin Julius, der Neue an Bord, und ich hoffe, ihr unterstützt mich bei der Wahl zum Schulsprecher. Ich kenne mich einen Scheiß mit Schulpolitik aus, aber wisst ihr, manchmal ist eine unverbrauchte Ansicht die beste Ansicht. Außerdem bin ich absolut unabhängig – gehöre zu keiner Clique, weil ich hier niemanden kenne.«
    Wie sich erweisen sollte, erschuf Julius sich nicht nur neu, sondern kam einem Wahlsieg verdammt nahe. Durch ein Footballteam, das achtzehn Spiele nacheinander verloren hatte, und eine fast ebenso glücklose Basketballmannschaft war die Roosevelt High völlig demoralisiert. Die beiden anderen Kandidaten waren anfechtbar: Catherine Schumann, die gescheite Tochter des winzigen, pferdegesichtigen Geistlichen, der vor jeder Schulversammlung das Gebet sprach, war zimperlich und unbeliebt; und Richard Heishman, der gut aussehende, rothaarige, stiernackige Football-Halfback hatte eine Menge Feinde. Julius schwamm ganz oben auf einer massiven Welle des Protests. Überdies wurde er zu seiner großen Überraschung von praktisch allen jüdischen Schülern, die dreißig Prozent ausmachten und sich bisher in politischer Zurückhaltung geübt hatten, mit offenen Armen empfangen. Sie liebten ihn, die Liebe des furchtsamen, schüchternen, nur kein Aufsehen erregenden Mason-Dixon-Juden zu dem draufgängerischen, frechen New Yorker Itzig.
    Diese Wahl war der Wendepunkt in Julius’ Leben. Er erhielt so viel Bestätigung in seiner Dreistigkeit, dass er seine ganze Identität auf dem Fundament unverfälschter Chuzpe neu aufbaute. Die drei jüdischen Highschool-Verbindungen wetteiferten um ihn; er galt als jemand, der sowohl Mumm hatte als auch im Besitz jenes ach so schwer zu fassenden heiligen Grals der Adoleszenz, nämlich »Persönlichkeit«, war. Bald schon war er beim Mittagessen in der Cafeteria von anderen Jugendlichen
umringt und wurde nach dem Unterricht oft Hand in Hand mit der reizenden Miriam Kaye gesehen, Herausgeberin der Schulzeitung und die einzige Schülerin, die intelligent genug war, um Catherine Schumann im Wettstreit um

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