Die Schopenhauer-Kur
warten
müssen, Philip. Ein weiterer Hinweis zur Psychotherapie: Vermeiden Sie Doppelbeziehungen zu Patienten – sie beeinträchtigen die Therapie. Ich meine alle Arten von nebengeordneten Beziehungen: romantische, geschäftliche, auch die zwischen Lehrer und Schüler. Deshalb möchte ich lieber, dass unsere Beziehung, und zwar um Ihretwillen, klar und eindeutig bleibt, und schlage vor, dass wir mit der Gruppe anfangen, danach eine Supervisionsbeziehung eingehen und irgendwann möglicherweise – ich verspreche nichts – mit dem Philosophie-Unterricht beginnen. Obwohl ich im Moment kein großes Verlangen danach habe, Schopenhauer zu studieren.«
»Trotzdem, können wir ein Honorar für meine künftigen philosophischen Beratungen festlegen?«
»Das ist heikel und noch lange hin, Philip.«
»Ich möchte es trotzdem festlegen.«
»Sie erstaunen mich immer wieder, Philip. Um welche verdammten Dinge Sie sich Sorgen machen! Und um welche nicht!«
»Egal, was wäre ein fairer Preis?«
»Ich berechne dem Supervisanden gewöhnlich dasselbe Honorar, das ich für eine Einzeltherapie nehme – mit einem Rabatt für Anfänger.«
»Akzeptiert«, sagte Philip und nickte.
»Warten Sie mal, Philip, ich möchte sicher sein, dass Sie verstanden haben, dass ein Schopenhauer-Studium nicht besonders wichtig für mich ist. Als das Thema zum ersten Mal aufkam, hat mich bloß interessiert, wieso Schopenhauer Ihnen so sehr helfen konnte, und das haben Sie aufgegriffen und daraus gefolgert, wir hätten eine vertragliche Vereinbarung.«
»Ich hoffe, Ihr Interesse an seinem Werk steigern zu können. Er hatte vieles von großem Wert für unser Gebiet zu sagen. In mancher Hinsicht hat er Freud vorweggenommen, der seine Gedanken ohne irgendeine Anerkennung samt und sonders entlehnte.«
»Ich werde offen dafür sein, aber ich wiederhole: Vieles, was
Sie über Schopenhauer gesagt haben, weckt nicht gerade mein Verlangen, sein Werk näher kennen zu lernen.«
»Auch nicht seine Ansichten über den Tod, die ich in meiner Vorlesung geäußert habe?«
»Die ganz besonders nicht. Die Vorstellung, dass mein innerstes Sein sich letztlich mit einer vagen, vergeistigten Lebenskraft vereinigt, bedeutet mir gar nichts. Wenn das Bewusstsein nicht weiter besteht, welcher Trost soll dann darin liegen? Aus dem gleichen Grunde finde ich es wenig tröstlich zu wissen, dass die Moleküle meines Körpers sich in den Kosmos verstreuen und meine DNA schließlich irgendwann Teil einer anderen Form von Leben ist.«
»Ich würde gern mit Ihnen zusammen seine Aufsätze über den Tod und die Unzerstörbarkeit des Seins lesen. Ich bin sicher, dass wir dann –«
»Nicht jetzt, Philip. Im Moment bin ich nicht so sehr am Tod interessiert wie daran, den Rest meines Lebens so vollständig wie möglich auszukosten – an dem Punkt stehe ich.«
»Der Tod ist als Horizont all dieser Fragen immer da. Sokrates hat es am deutlichsten gesagt: ›Um gut leben zu lernen, muss man zunächst gut sterben lernen.‹ Oder Seneca: ›Keiner genießt den wahren Geschmack des Lebens außer dem, der willens und bereit ist, es hinter sich zu lassen.‹«
»Ja, ja. Diese Moralpredigten kenne ich, und im Abstrakten mögen sie auch zutreffen. Und ich habe nichts dagegen, der Psychotherapie die Weisheit der Philosophie einzuverleiben. Durchaus nicht. Und ich weiß auch, dass Schopenhauer Ihnen in vielerlei Hinsicht sehr geholfen hat. Aber nicht in jeder Hinsicht: Womöglich müssen Sie noch gründlicher geheilt werden. Und da kommt die Gruppe ins Spiel. Ich freue mich darauf, Sie am nächsten Montag um halb fünf hier bei Ihrem ersten Treffen zu sehen.«
»Eben weil die heillose Tätigkeit (des Genitalsystems) noch
schlummert, während die des Gehirns schon volle
Regsamkeit hat, ist die Kindheit die Zeit der Unschuld und
des Glückes, das Paradies des Lebens, das verlorene Eden,
auf welches wir unsern ganzen übrigen Lebensweg
hindurch sehnsüchtig zurückblicken.« Ref 14
10
Die glücklichsten Jahre in Arthurs Leben
Als Arthur neun wurde, befand sein Vater, es sei an der Zeit, die Aufsicht über die Erziehung seines Sohnes zu übernehmen. Sein erster Schritt war der, ihn für zwei Jahre im Haus seines Geschäftspartners Grégoire de Blésimaire in Le Havre unterzubringen. Dort sollte Arthur Französisch, gute Manieren und, wie Heinrich es formulierte, »im Buche der Welt zu lesen« lernen.
Mit neun Jahren von daheim vertrieben, von seinen Eltern getrennt? Wie viele Kinder
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