Die Schopenhauer-Kur
das Halten der Abschiedsrede die Stirn zu bieten. Er und Miriam wurden schnell unzertrennlich. Sie machte ihn empfänglich für Kunst und Ästhetik, lernte ihrerseits jedoch nie das Dramatische an Bowling oder Baseball schätzen.
Ja, mit Chuzpe hatte er es weit gebracht. Er kultivierte sie, war stolz auf sie und strahlte in seinem späteren Leben, wenn er hörte, dass man ihn als Original bezeichnete, als Außenseiter, als Therapeuten, der den Schneid hatte, Fälle zu übernehmen, an denen andere gescheitert waren. Aber die Chuzpe hatte auch ihre dunkle Seite – Größenwahn. Mehr als einmal war Julius in die Irre gegangen, weil er versucht hatte, mehr zu tun, als zu schaffen war, indem er Patienten zu größeren Veränderungen drängte, als sie von ihrer Anlage her leisten konnten, indem er Patienten einer langen und letztlich nutzlosen Therapie unterzog.
War es also Mitgefühl oder schiere klinische Hartnäckigkeit, die Julius zu der Annahme bewogen, er könne Philip doch noch als Erfolg verbuchen? Oder war es größenwahnsinnige Chuzpe? Er wusste es wirklich nicht. Während er Philip in den Gruppentherapieraum geleitete, warf Julius einen langen Blick auf seinen Patienten wider Willen. Mit seinen glatten, hellbraunen Haaren, die ohne Scheitel streng zurückgekämmt waren, seiner Haut, die sich straff über die hohen Wangenknochen spannte, seinem argwöhnischen Blick und dem schweren Schritt sah Philip aus, als würde er zu seiner eigenen Hinrichtung geführt.
Julius wurde von einer Woge des Mitleids überschwemmt und tröstete ihn mit seiner mildesten, besänftigendsten Stimme: »Wissen Sie, Philip, Therapiegruppen sind unendlich komplex, aber sie besitzen eine absolut vorhersehbare Eigenschaft.«
Falls Julius die natürliche neugierige Frage nach der »einen absolut vorhersehbaren Eigenschaft« erwartet hatte, ließ er sich seine Enttäuschung über Philips Schweigen nicht anmerken. Stattdessen sprach er einfach weiter, als hätte Philip angemessene Neugier geäußert. »Und diese Eigenschaft ist die, dass das erste Zusammentreffen mit einer Therapiegruppe unweigerlich weniger peinlich und viel angenehmer ist, als das neue Mitglied erwartet.«
»Ich empfinde kein Unbehagen, Julius.«
»Na, dann legen Sie das, was ich gesagt habe, einfach zu den Akten. Falls Sie es mal brauchen.«
Philip blieb an der Tür zu dem Büro stehen, wo sie sich vor ein paar Tagen getroffen hatten, doch Julius berührte ihn am Ellbogen und geleitete ihn den Flur entlang zur nächsten Tür, hinter der sich ein Zimmer befand, das auf drei Seiten von deckenhohen Bücherregalen gesäumt war. Durch die drei holzgerahmten Fenster in der vierten Wand schaute man in einen japanischen Garten, der geschmückt war mit mehreren Zwergkiefern, zwei Häufchen aus winzigen Findlingen und einem schmalen, zweieinhalb Meter langen Teich, in dem Goldkarpfen dahinglitten. Die Einrichtung des Raums war schlicht und funktional und bestand nur aus einem kleinen Tisch neben der Tür, sieben bequemen, zu einem Kreis angeordneten Rattansesseln und zwei weiteren, die in den Ecken standen.
»Da sind wir. Dies hier ist meine Bibliothek und mein Gruppentherapieraum. Während wir auf die anderen warten, will ich Sie rasch in die Hausordnung einweisen. Montags schließe ich die Tür etwa zehn Minuten vor dem Treffen auf, und die Teilnehmer treten einfach ein und machen sich bereit. Wenn ich um halb fünf eintreffe, fangen wir ziemlich pünktlich an und machen um sechs Schluss. Um mir das Rechnen und Buchhalten zu erleichtern, zahlt jeder am Ende jeder Sitzung – legen Sie einfach einen Scheck auf den Tisch neben der Tür. Fragen?«
Philip schüttelte den Kopf, blickte sich im Raum um und atmete tief ein. Er trat an die Regale, hielt seine Nase dicht an die Reihen der in Leder gebundenen Bücher und bekundete mit einem nochmaligen Einatmen seine große Freude an ihnen. Er blieb stehen und begann eifrig, die Titel zu studieren.
In den nächsten Minuten traten fünf Gruppenmitglieder ein, die alle auf Philips Rücken schauten, ehe sie Platz nahmen. Trotz der Geräusche ihrer Schritte wandte Philip nicht den Kopf oder unterbrach sonstwie seine Begutachtung von Julius’ Bibliothek.
In seinen fünfunddreißig Jahren als Leiter von Gruppen hatte Julius viele Menschen zu Beginn ihrer Therapie erlebt. Das Muster war vorhersehbar: Der neue Teilnehmer tritt zögernd vor Besorgnis ein und verhält sich respektvoll gegenüber den anderen Mitgliedern, die den Neuling
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