Die Schopenhauer-Kur
begrüßen und sich vorstellen. Gelegentlich kommt es vor, dass eine erst kürzlich gebildete Gruppe irrtümlicherweise glaubt, der Nutzen der Therapie sei direkt proportional zu dem Maß an Aufmerksamkeit, das jedem vom Therapeuten zuteil wird, und deshalb Neulinge ablehnt; etablierte Gruppen dagegen heißen sie willkommen: Sie wissen, dass eine volle Namensliste die Effektivität der Therapie eher steigert als mindert.
Hin und wieder stürzen sich Neulinge gleich in die Diskussion, doch meistens schweigen sie den Großteil der ersten Sitzung über, versuchen währenddessen, die Spielregeln zu erkennen, und warten, bis jemand sie auffordert, sich zu beteiligen. Aber ein neues Mitglied, das so gleichgültig ist, dass es der Gruppe den Rücken zukehrt und sie ignoriert? Das hatte Julius noch nie erlebt. Nicht einmal in Gruppen mit psychotischen Patienten auf der geschlossenen Station.
Bestimmt ist es ein Fehler gewesen, dachte Julius, Philip in die Gruppe einzuladen. Dass er den Teilnehmern von seiner Krebserkrankung erzählen musste, reichte eigentlich. Und es war eine Belastung für ihn, sich wegen Philip Sorgen machen zu müssen.
Was war los mit Philip? War es möglich, dass ihn schlichtweg Angst oder Schüchternheit überwältigten? Unwahrscheinlich. Nein, vermutlich war er wütend darüber, dass er auf seinem Eintritt in die Gruppe bestanden hatte, und zeigte ihm und der Gruppe jetzt auf seine passiv-aggressive Weise den Stinkefinger. Mein Gott, dachte Julius, am liebsten würde ich ihn sich selbst überlassen. Einfach gar nichts tun. Soll er untergehen oder schwimmen. Es wäre ein Vergnügen, sich zurückzulehnen und die heftigen Attacken der Gruppe auszukosten, die sicher auf ihn zukommen würden.
Julius erinnerte sich nicht oft an Witze, aber in diesem Moment fiel ihm einer ein, den er vor Jahren gehört hatte. Eines Morgens sagt ein Sohn zu seiner Mutter: »Ich will heute nicht in die Schule.«
»Warum nicht?«, fragt die Mutter.
»Aus zwei Gründen: Ich hasse die Schüler, und sie hassen mich.«
Die Mutter erwidert: »Es gibt zwei Gründe dafür, dass du zur Schule gehen musst: Erstens bist du fünfundvierzig, und zweitens bist du der Rektor.«
Ja, er war erwachsen. Und er war der Therapeut der Gruppe. Und es war seine Aufgabe, neue Mitglieder zu integrieren, sie vor anderen und vor sich selbst zu schützen. Obwohl er fast nie eine Zusammenkunft selbst einleitete, weil er die Teilnehmer ermutigen wollte, Verantwortung für die Gruppe zu übernehmen, blieb ihm heute nichts anderes übrig.
»Halb fünf. Zeit, anzufangen. Philip, warum setzen Sie sich nicht?« Philip drehte sich zu ihm um, bewegte sich jedoch nicht auf einen Sessel zu. Ist er taub?, dachte Julius. Ein sozialer Trottel? Erst als Julius seine Augäpfel heftig in Richtung einer der leeren Sitze verdrehte, nahm Philip Platz.
Zu Philip sagte er: »Das ist unsere Gruppe. Eine Teilnehmerin, Pam, wird heute nicht dabei sein; sie ist auf einer zweimonatigen Reise.« Und, zur Gruppe gewandt: »Ich habe vor ein paar Wochen erwähnt, dass vielleicht ein neues Mitglied hinzukommt.
Letzte Woche habe ich mich mit Philip getroffen, und er steigt heute ein.« Natürlich steigt er heute ein, dachte Julius. Dämlicher, saublöder Kommentar. Das war’s. Kein Händchenhalten mehr. Geh unter oder schwimm.
Genau in dem Moment kam Stuart, direkt von der Kinderstation des Krankenhauses, in den Raum gestürzt, immer noch im weißen Arztkittel, und warf sich in einen Sessel, wobei er sich murmelnd für seine Verspätung entschuldigte. Dann wandten sich alle Teilnehmer Philip zu, und vier von ihnen stellten sich vor und begrüßten ihn. »Ich bin Rebecca, Tony, Bonnie, Stuart. Hallo. Prima, dass Sie da sind. Willkommen. Schön, Sie bei uns zu haben. Wir brauchen frisches Blut – neue Anregungen sozusagen.«
Das fünfte Mitglied, ein attraktiver Mann mit frühzeitiger Glatze, die von einem Kranz hellbrauner Haare gesäumt war, und dem stämmigen Körper eines Football-Linienrichters, der ein bisschen aus dem Leim gegangen ist, sagte mit überraschend sanfter Stimme: »Hi, ich bin Gill. Philip, Sie haben hoffentlich nicht das Gefühl, dass ich Sie ignoriere, aber ich brauche heute unbedingt, dringend, Zeit in der Gruppe. Ich habe die Gruppe noch nie so gebraucht wie heute.«
Keine Reaktion von Philip.
»Okay, Philip?«, wiederholte Gill.
Erschrocken riss Philip die Augen auf und nickte.
Gill wandte sich den vertrauten Gesichtern im Raum zu und begann.
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