Die Schopenhauer-Kur
sich um ein vernünftiges professionelles Urteil, oder hob seine Chuzpe wieder einmal ihr hässliches Haupt?
Chuzpe: tollkühne Unverfrorenheit. Chuzpe: am besten definiert durch die bekannte Geschichte von dem Jungen, der seine Eltern ermordet und dann das Gericht um Gnade anfleht mit der Begründung, dass er Waise sei. Chuzpe kam Julius oft in den Sinn, wenn er über seine Herangehensweise an das Leben nachdachte. Vielleicht war er von vornherein mit Chuzpe
ausgestattet gewesen, doch zum ersten Mal machte er sie sich im Herbst seines fünfzehnten Jahres bewusst zu Eigen, als seine Familie von der Bronx nach Washington, D. C., zog. Sein Vater, der finanzielle Rückschläge erlitten hatte, brachte sie im Nordwesten der Hauptstadt in einem kleinen Reihenhaus in der Farragut Street unter. Worin genau die finanziellen Probleme seines Vaters bestanden, entzog sich jeder Recherche, aber Julius war überzeugt davon, dass sie mit der Aquaeduct-Rennbahn und »She’s All That« zu tun hatten, einem Pferd, das ihm und Vic Vicello, einem seiner Poker-Spezis, gehörte. Vic war eine schillernde Figur; er trug ein rosa Taschentuch in seinem gelben Sportsakko und achtete darauf, dass er nie zu ihnen nach Hause kam, wenn seine Mutter da war.
In seinem neuen Job war sein Vater Manager eines Spirituosengeschäfts, dessen Besitzer, sein Cousin, mit fünfundvierzig von einer Koronarthrombose dahingerafft worden war, jenem düsteren Feind, der eine ganze Generation aus Osteuropa stammender Juden, die mit Schmand und fettem Fleisch aufgewachsen waren, entweder zu Krüppeln machte oder tötete. Sein Vater hasste seinen neuen Job, aber er ernährte die Familie und warf nicht nur einen guten Verdienst ab, sondern die lange Arbeitszeit hielt den Vater auch von Laurel und Pimlico fern, den örtlichen Rennbahnen.
An seinem ersten Schultag an der Roosevelt High im September 1955 traf Julius eine folgenschwere Entscheidung: Er würde sich neu erfinden. Er war unbekannt in Washington, ein freier Mensch, unbelastet von der Vergangenheit. Seine letzten drei Jahre an der P. S. 1126, seiner Junior-Highschool in der Bronx, waren nichts, worauf er hätte stolz sein können. Das Glücksspiel war wesentlich interessanter gewesen als alle schulischen Aktivitäten, deshalb hatte er jeden Nachmittag auf der Bowlingbahn verbracht, wo er Spiele organisierte, bei denen man auf ihn oder seinen Partner Marty Geller setzen konnte – den mit dem prachtvollen Linkshandschlenker. Außerdem betrieb er ein kleines Wettbüro, wo er jedem zehn zu
eins bot, der drei beliebige Baseballspieler auswählte, die an einem bestimmten Tag zusammen sechs Treffer schafften. Egal, auf wen die Blödmänner tippten – Mantle, Kaline, Aaron, Vernon oder Stan (the Man) Musial –, sie gewannen selten, bestenfalls einmal bei zwanzig oder dreißig Wetten. Julius umgab sich mit Gleichgesinnten, legte sich die Aura des harten Straßenkämpfers zu, um Möchtegern-Ganoven einzuschüchtern, stellte sich in der Schule dumm, um den Anschein von Coolness aufrechtzuerhalten, und schwänzte nachmittags so manche Stunde, um Mantle beim Abpatrouillieren des Spielfelds im Yankee Stadium zu beobachten.
Alles änderte sich an dem Tag, an dem er und seine Eltern in das Büro des Rektors gerufen und mit seinen Buchmacheraufzeichnungen konfrontiert wurden, die er in den letzten Tagen hektisch gesucht hatte. Obgleich Strafen verhängt wurden – kein Ausgang am Abend in den restlichen zwei Monaten des Schuljahrs, keine Bowlingbahn, keine Ausflüge ins Yankee Stadium, kein Sport nach der Schule, kein Taschengeld –, merkte Julius, dass sein Vater nicht mit dem Herzen bei der Sache war: Er war vollkommen fasziniert von den Details von Julius’ Drei-Spieler-sechs-Treffer-Gaunerei. Trotzdem, Julius hatte den Rektor bewundert, und bei ihm in Ungnade gefallen zu sein, rüttelte ihn so sehr auf, dass er versuchte, sich zu bessern. Aber es war zu wenig, und es kam zu spät; das Beste, was ihm gelang, war, seine Noten auf zwei minus zu verbessern. Es war nicht möglich, neue Freundschaften aufzubauen – er war auf seine Rolle festgelegt, und keiner konnte etwas mit dem neuen Menschen anfangen, der Julius werden wollte.
Als Folge dieser Episode besaß der ältere Julius eine hoch entwickelte Sensibilität für das Phänomen der »Rollenfixierung«: Wie oft hatte er erlebt, dass sich Patienten in der Gruppentherapie drastisch veränderten, von den anderen Mitgliedern aber weiterhin als die alten
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