Die Schopenhauer-Kur
»Es ist eine Menge passiert, und heute Vormittag nach einer Sitzung bei dem Hirnklempner meiner Frau hat es sich zugespitzt. Ich habe Ihnen ja in den letzten Wochen erzählt, dass dieser Therapeut Rose ein Buch über Kindesmissbrauch gegeben hat, das sie davon überzeugt hat, dass sie als Kind missbraucht wurde. Es ist geradezu eine fixe Idee geworden – wie nennt man das noch mal . . . eine Idee fiex?« Gill drehte sich zu Julius um.
»Eine idée fixe«, warf Philip augenblicklich mit perfektem Akzent ein.
»Genau. Danke«, sagte Gill, während er Philip einen raschen Blick zuwarf und leise hinzufügte: »Holla, das war schnell«, und dann zu seinem Bericht zurückkehrte. »Also, Rose hat die idée fixe, dass ihr Vater sie sexuell belästigt hat, als sie klein war. Sie kommt nicht davon los. Erinnert sie sich an irgendeinen entsprechenden Vorfall? Nein. Zeugen? Nein. Aber ihr Therapeut glaubt, wenn sie ständig deprimiert ist, Angst vor Sex hat, Aussetzer in ihrer Aufmerksamkeit und unkontrollierbare Emotionen, besonders Wut auf Männer, dann muss sie missbraucht worden sein. Das ist die Botschaft dieses verdammten Buches. Und der Therapeut schwört darauf. Also haben wir seit Monaten, wie ich Ihnen bis zum Erbrechen erzählt habe, kaum über etwas anderes geredet. Die Therapie meiner Frau ist unser Leben. Keine Zeit für irgendwas anderes. Kein anderes Gesprächsthema. Unser Liebesleben ist nicht mehr existent. Nichts. Tote Hose. Vor zwei Wochen bat sie mich, ihren Vater anzurufen – sie ist nicht bereit, selbst mit ihm zu reden – und ihn zu ihrer heutigen Therapiesitzung einzuladen. Sie wollte, dass ich auch mitkomme – zu ihrem ›Schutz‹, meinte sie.
Also rief ich ihn an. Er willigte sofort ein. Gestern stieg er dann in Portland in den Bus und erschien heute Morgen mit seinem zerschrammten Koffer bei der Therapiesitzung, weil er gleich hinterher wieder zum Busbahnhof wollte. Die Sitzung war eine Katastrophe. Das absolute Chaos. Rose lud einfach alles auf ihm ab und hörte nicht auf damit. Ohne Einschränkungen, ohne Pause, ohne ein Wort der Anerkennung dafür, dass ihr alter Herr mehrere hundert Kilometer zu ihr gefahren war – zu ihrer anderthalbstündigen Therapiesitzung. Sie beschuldigte ihn aller möglichen Dinge, sogar, dass er seine Nachbarn, seine Pokerspezis, seine Kollegen bei der Feuerwehr – er war früher Feuerwehrmann – eingeladen habe, mit ihr zu schlafen, als sie ein Kind war.«
»Wie hat der Vater reagiert?«, fragte Rebecca, eine hoch gewachsene, schlanke Vierzigjährige von außergewöhnlicher
Schönheit, die sich vorgebeugt hatte, um Gill aufmerksam zu lauschen.
»Er verhielt sich wie ein Mensch. Er ist ein netter alter Mann, um die siebzig, freundlich, angenehm. Ich habe ihn heute zum ersten Mal gesehen. Er war erstaunlich – mein Gott, ich wünschte, ich hätte so einen Vater. Saß einfach da und schluckte alles und sagte zu Rose, wenn sie so viel Wut in sich habe, sei es wahrscheinlich am besten, sie rauszulassen. Er leugnete nur immer wieder sanft all ihre verrückten Anschuldigungen und stellte die Vermutung an – eine zutreffende, wie ich glaube –, dass sie in Wirklichkeit wütend auf ihn ist, weil er die Familie verlassen hat, als sie zwölf war. Er meinte, ihre Wut sei von ihrer Mutter befruchtet worden – sein Wort, er ist Farmer –, die sie seit ihrer Kindheit gegen ihn aufgestachelt hat. Er sagte, er hätte gehen müssen; das Leben mit ihrer Mutter habe ihn wahnsinnig deprimiert, und er wäre heute tot, wenn er geblieben wäre. Und glauben Sie mir, ich kenne Roses Mutter, und da ist was dran. Einiges.
Nach der Sitzung fragte er, ob wir ihn zum Busbahnhof fahren könnten, und ehe ich antworten konnte, meinte Rose, sie würde sich in einem Auto mit ihm nicht sicher fühlen. ›Hab schon kapiert‹, sagte er und marschierte mit seinem Koffer davon.
Na ja, zehn Minuten später fuhren Rose und ich die Market Street entlang, da sehe ich ihn – einen weißhaarigen, gebeugten alten Mann, der seinen Koffer hinter sich herzieht. Es fing an zu regnen, und ich sagte mir: ›So ein Scheiß.‹ Ich hab die Nerven verloren und zu Rose gesagt: ›Er kommt deinetwegen hierher – zu deiner Therapiesitzung –, er kommt den ganzen Weg aus Portland, es regnet, und ich fahre ihn verdammt noch mal zum Busbahnhof.‹ Dann habe ich am Bordstein gehalten und ihm angeboten, ihn mitzunehmen. Rose erdolcht mich mit Blicken. ›Wenn er einsteigt, steige ich aus‹,
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