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Die Schopenhauer-Kur

Die Schopenhauer-Kur

Titel: Die Schopenhauer-Kur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irvin D. Yalom
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sagt sie, und ich sage: ›Nur zu.‹ Ich zeige auf das Starbucks gegenüber und sage ihr, sie solle dort warten, ich käme sie in ein paar Minuten abholen.
Sie steigt aus und stolziert los. Das war vor ungefähr fünf Stunden. Im Starbucks ist sie nicht aufgetaucht. Ich bin zum Golden Gate Park gefahren und dort bis jetzt spazieren gegangen. Ich erwäge, überhaupt nicht mehr nach Hause zu gehen.«
    Damit ließ sich Gill erschöpft in den Sessel zurückfallen.
    Die anderen Gruppenmitglieder – Tony, Rebecca, Bonnie und Stuart – stimmten einen Chor der Anerkennung an. »Großartig, Gill«, »Wurde auch Zeit, Gill«, »Wow, Sie haben es geschafft«, »Toll, richtiger Schritt«. Tony meinte: »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass Sie sich von dem Miststück befreit haben.« »Falls Sie ein Bett brauchen«, sagte Bonnie, fuhr sich nervös durch ihre krausen braunen Haare und rückte ihre Brille mit den runden, gelb getönten Gläsern zurecht, »ich habe ein Gästezimmer. Keine Angst, Sie sind in Sicherheit«, fügte sie mit einem Kichern hinzu. »Ich bin viel zu alt für Sie, und meine Tochter ist zu Hause.«
    Julius, der nicht glücklich über den Druck war, den die Gruppe ausübte (er hatte zu viele Teilnehmer aus zu vielen Therapiegruppen aussteigen sehen aus Scham darüber, die Gruppe enttäuscht zu haben), wagte seine erste Intervention. »Ein starkes Feedback kriegen Sie da, Gill. Wie fühlen Sie sich dabei?«
    »Prima. Ich fühle mich prima. Es ist nur so – ich will die Gruppe nicht enttäuschen. Es geht alles so schnell – es ist erst heute Vormittag passiert . . . Ich stehe auf wackligen Beinen, und alles ist noch im Fluss . . . ich weiß nicht, was ich tun werde.«
    »Sie meinen«, sagte Julius, »Sie möchten die Forderungen Ihrer Frau nicht gegen die Forderungen der Gruppe eintauschen.«
    »Ja. Vermutlich. Ja. Ich sehe, was Sie meinen. Genau. Aber andererseits . . . Ich wünsche mir diese Ermutigung wirklich, brauche sie wirklich ... bin dankbar dafür... Ich brauche Rat – dies ist vielleicht ein Wendepunkt in meinem Leben. Jeder
hat sich dazu geäußert, nur Sie nicht, Julius. Und unser neues Mitglied natürlich nicht. Philip, stimmt’s?«
    Philip nickte.
    »Philip, ich weiß, dass Sie meine Situation nicht kennen, aber Sie Julius, kennen sie«, fuhr Gill fort. »Was soll ich Ihrer Meinung nach tun?«
    Julius zuckte unwillkürlich zusammen und hoffte, dass keiner es bemerkt hatte. Wie die meisten Therapeuten hasste er diese Frage – die immer auf ein »Verdammt, wenn du’s tust, verdammt, wenn du’s nicht tust« hinauslief. Er hatte sie kommen sehen.
    »Gill, meine Antwort wird Ihnen nicht gefallen. Aber hier ist sie. Ich kann Ihnen nicht sagen, was Sie tun sollen; das ist Ihre Aufgabe, Ihre Entscheidung, nicht meine. Ein Grund dafür, dass Sie in dieser Gruppe sind, ist der, dass Sie lernen müssen, Ihrem eigenen Urteil zu vertrauen. Ein weiterer Grund für meine Antwort ist der, dass mir alles, was ich über Ihre und Roses Ehe weiß, durch Sie vermittelt wird. Und Sie sind in dieser Hinsicht einfach befangen. Ich kann Ihnen nur helfen, sich auf Ihren eigenen Anteil an Ihrer misslichen Lage zu konzentrieren. Rose können wir nicht verstehen oder ändern; Sie sind es – Ihre Gefühle, Ihr Verhalten –, auf den es hier ankommt, denn sich können Sie ändern.«
    Die Gruppe schwieg. Julius hatte Recht gehabt; Gill gefiel die Antwort nicht. Den anderen Teilnehmern ebenso wenig.
    Rebecca, die sich zwei Haarklemmen herausgezogen hatte und ihr langes Haar schüttelte, bevor sie sie wieder hineinsteckte, brach das Schweigen, indem sie sich an Philip wandte. »Sie sind neu hier und kennen den Hintergrund der Geschichte nicht wie wir übrigen. Aber manchmal kommt aus dem Mund von Neugeborenen . . .«
    Philip saß wortlos da. Es war unklar, ob er Rebecca überhaupt gehört hatte.
    »Ja, versuchen Sie sich mal daran, Philip«, sagte Tony in einem für ihn ungewöhnlich sanften Ton. Tony war ein dunkelhäutiger
Mann mit tiefen Aknenarben auf den Wangen und einem schlaksigen, eleganten, sportlichen Körper, den er in seinem schwarzen San-Francisco-Giants-T-Shirt und seinen engen Jeans vorteilhaft zur Schau stellte.
    »Ich habe einen Kommentar und einen Ratschlag«, sagte Philip, die Hände gefaltet, den Kopf schräg nach hinten gelegt, den Blick an die Decke gerichtet. »Nietzsche schrieb einmal, dass ein wesentlicher Unterschied zwischen Mensch und Kuh darin bestünde, dass die

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