Die Schopenhauer-Kur
trifft das bestimmt zu – ich habe die ganze letzte Woche gedacht, meine Scham darüber, Tischler zu sein, ein Prolet mit niedrigem Einkommen, auf den man herabsieht, beschäftigt mich so sehr, dass ich nie dazu komme, über die Scheiße nachzudenken, die ich wirklich am Hals habe.«
Julius beobachtete voller Erstaunen, wie einer nach dem anderen, nach jedem Wort Philips dürstend, einfiel. Er spürte, wie Konkurrenzgefühle in ihm aufstiegen, unterdrückte sie jedoch, indem er sich ins Gedächtnis rief, dass den Zwecken der Gruppe gedient wurde. Ganz ruhig, Julius, sagte er sich, die Gruppe braucht dich; sie wird dich nicht um Philips willen verlassen. Was sich hier abspielt, ist großartig; sie assimilieren den neuen Teilnehmer und legen außerdem neue Tagesordnungspunkte fest.
Er hatte beabsichtigt, beim heutigen Treffen über seine Diagnose zu sprechen. In gewisser Weise war er dazu gezwungen, weil er Philip bereits erzählt hatte, dass er ein Melanom hatte, und dies, um den Eindruck einer speziellen Beziehung mit ihm
zu vermeiden, der ganzen Gruppe mitteilen musste. Aber man hatte ihn ausgebootet, zuerst Gill mit seinem Notfall und dann Philip, der die ganze Gruppe total faszinierte. Er schaute auf die Uhr. Noch zehn Minuten. Nicht genug Zeit, um ihnen seine Geschichte zuzumuten. Julius beschloss, dass er das nächste Treffen auf jeden Fall mit den schlechten Nachrichten einleiten würde. Fürs Erste schwieg er und ließ die Zeit ablaufen.
»Die Könige ließen Kron’ und Szepter hier zurück,
die Helden ihre Waffen . . . doch die großen Geister unter
ihnen allen, deren Glanz aus ihnen selber floß, die ihn
nicht von äußerlichen Dingen erhielten, die nehmen ihre
Größe mit hinüber (. . .)« Ref 20
Arthur Schopenhauer, sechzehn Jahre,
in Westminster Abbey
12
1799 – Arthur lernt die Qual der Wahl und andere irdische Schrecken kennen
Als der neunjährige Arthur aus Le Havre zurückkehrte, steckte sein Vater ihn in eine Privatschule, deren spezifischer Auftrag es war, künftige Kaufleute auszubilden. Dort lernte er, was Experten in dieser Zunft wissen mussten: in verschiedenen Währungen zu rechnen, Geschäftsbriefe in allen wichtigen europäischen Sprachen zu schreiben, Transportwege, Handelszentren, Bodenerträge zu studieren und ähnlich faszinierende Themen. Aber Arthur war nicht fasziniert; er hatte kein Interesse an derartigem Wissen, knüpfte in der Schule keine engen Freundschaften und hatte jeden Tag mehr Angst vor dem Plan seines Vaters für seine Zukunft – eine siebenjährige Lehre bei einem ortsansässigen Handelsmagnaten.
Was wünschte sich Arthur? Nicht das Leben eines Kaufmanns – schon die Vorstellung war ihm zuwider. Er sehnte sich nach dem Dasein eines Gelehrten. Zwar missfiel vielen seiner Klassenkameraden der Gedanke an eine lange Lehrzeit ebenfalls,
aber Arthurs Einwände waren tiefgehender. Trotz strenger Ermahnungen seiner Eltern – ein Brief von seiner Mutter instruierte ihn, ». . . daß du die Dichter allesamt und sonders auf einige Zeit zur Seite legtest . . . Du bist nun 15 Jahre alt, Du hast schon die besten Deutschen, Französischen und zum Theil auch Englischen Dichter gelesen und studirt.« – verbrachte er seine ganze Freizeit damit, Literatur und Philosophie zu studieren. Ref 21
Arthurs Vater Heinrich quälten die Interessen seines Sohnes. Der Direktor von Arthurs Schule hatte ihn informiert, dass sein Sohn eine Leidenschaft für die Philosophie habe, außerordentlich geeignet für das Leben eines Gelehrten sei und es gut wäre, ihn auf ein Gymnasium zu schicken, das ihn auf die Universität vorbereiten würde. Tief im Herzen mag Heinrich gespürt haben, wie richtig der Ratschlag des Direktors war; Arthurs unersättlicher Hunger nach allen Werken der Philosophie, Geschichte und Literatur in der umfangreichen Schopenhauerschen Bibliothek und sein Verständnis für sie waren nur allzu offensichtlich.
Was sollte Heinrich tun? Auf dem Spiel standen seine Nachfolge sowie die Zukunft der gesamten Firma und seine Verpflichtung den Vorfahren gegenüber, den Stammbaum der Familie zu erhalten. Überdies erschauerte er bei der Aussicht, dass ein männlicher Schopenhauer mit den begrenzten Einkünften eines Gelehrten würde auskommen müssen.
Zunächst erwog er, eine lebenslange Leibrente für seinen Sohn auszusetzen, aber die Kosten waren unerschwinglich; die Geschäfte liefen schlecht, und Heinrich war schließlich auch verpflichtet, seiner Ehefrau und Tochter
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