Die Schopenhauer-Kur
eine finanzielle Zukunft zu garantieren.
Dann begann sich in seinem Kopf allmählich eine Lösung, ein mehr oder weniger diabolischer Plan abzuzeichnen. Seit einiger Zeit schon hatte er sich Johannas Bitten widersetzt, eine längere Europareise zu unternehmen. Die Zeiten waren schwierig; das internationale politische Klima war so instabil,
dass die Sicherheit der Hansestädte bedroht und seine ständige Aufsicht über die Firma erforderlich war. Aber Erschöpfung und die Sehnsucht, die Last seiner geschäftlichen Verpflichtungen abzuschütteln, ließen seinen Widerstand gegen Johannas Bitte ins Wanken geraten. Langsam kristallisierte sich in ihm ein Plan heraus, der zwei Zwecke erfüllen würde: seine Frau wäre zufrieden, und das Dilemma hinsichtlich Arthurs Zukunft wäre gelöst.
Er beschloss, seinen fünfzehnjährigen Sohn vor eine Wahl zu stellen. »Du musst dich entscheiden«, sagte er zu ihm. »Entweder du begleitest deine Eltern auf eine einjährige Reise durch ganz Europa, oder du schlägst eine Laufbahn als Gelehrter ein. Entweder du gibst mir dein Wort, dass du am Tag deiner Rückkehr eine Lehre als Kaufmann beginnst, oder du verzichtest auf die Reise, bleibst in Hamburg und nimmst unverzüglich ein klassisches Studium auf, das dich auf das akademische Leben vorbereitet.«
Man stelle sich einen Fünfzehnjährigen vor, der mit solch einer existentiellen Entscheidung konfrontiert wird! Vielleicht lieferte ihm Heinrich eine Unterweisung fürs ganze Leben. Vielleicht lehrte er seinen Sohn, dass Alternativen sich ausschließen, dass es für jedes Ja ein Nein geben muss.
Oder wollte Heinrich seinem Sohn einen Vorgeschmack der Entsagung bieten? Wenn Arthur nicht auf das Vergnügen einer Reise verzichten konnte, wie durfte er dann erwarten, auf weltliche Freuden verzichten und das ärmliche Leben eines Gelehrten führen zu können?
Womöglich sind wir zu nachsichtig gegen Heinrich. Höchstwahrscheinlich war sein Angebot arglistig, weil er wusste, dass Arthur es nicht ausschlagen würde, nicht ausschlagen konnte. Das schaffte 1803 kein Fünfzehnjähriger. Zu der Zeit war eine solche Reise ein einmaliges Ereignis von unschätzbarem Wert, das sich nur wenige Privilegierte leisten konnten. Vor dem Aufkommen der Fotografie waren fremde Orte nur durch Zeichnungen, Gemälde und veröffentlichte Reisetagebücher
(ein Genre übrigens, in dem Johanna Schopenhauer sich später hervortun sollte) bekannt.
Hatte Arthur das Gefühl, seine Seele zu verkaufen? Quälte ihn seine Entscheidung? Zu diesen Fragen schweigt die Geschichte. Wir wissen nur, dass er 1803, in seinem sechzehnten Jahr, mit seinem Vater, seiner Mutter und einem Dienstboten zu einer fünfzehnmonatigen Reise durch ganz Westeuropa und Großbritannien aufbrach. Adele, seine sechsjährige Schwester, wurde bei einer Verwandten in Hamburg untergebracht.
Arthur zeichnete in seinen Reisetagebüchern, die er auf Forderung seiner Eltern in der Sprache des jeweiligen Gastlandes schrieb, viele Eindrücke auf. Seine sprachliche Begabung war erstaunlich; der Fünfzehnjährige konnte sich außer auf Deutsch auch auf Französisch und Englisch fließend ausdrücken und hatte ausreichende Kenntnisse des Italienischen und Spanischen. Letztlich sollte er ein Dutzend moderne und alte Sprachen meistern, und wie Besuchern seiner Gedenkbibliothek aufgefallen ist, hatte er die Gewohnheit, Randbemerkungen in der Sprache des Textes, den er gerade las, zu verfassen.
Arthurs Reisetagebücher deuten auf subtile Weise Interessen und Wesenszüge an, die sich immer mehr zu einer nachhaltigen Persönlichkeitsstruktur verfestigten. Einen eindringlichen Subtext stellt die Faszination dar, die die Schrecken der Menschheit auf ihn ausüben. Detailgetreu beschreibt Arthur solch eindrucksvolle Bilder wie die von verhungernden Bettlern in Westfalen, den Massen, die in Panik vor dem drohenden Krieg flüchten (Napoleons Feldzüge standen kurz bevor), von Räubern, Taschendieben und betrunkenen Menschenmengen in London, plündernden Banden in Poitiers, der öffentlich zur Schau gestellten Guillotine in Paris, den sechstausend Galeerensklaven in Toulon, ausgestellt wie im Zoo, dazu verdammt, lebenslänglich in am Kai liegenden Schiffen, zu baufällig, um sie je wieder zu Wasser zu lassen, aneinander gekettet zu sein. Und er schildert die Festung von Marseille, die einst den Mann mit der eisernen Maske beherbergte, und das Museum des
Schwarzen Todes, wo Briefe aus einstmals unter Quarantäne
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