Die Schopenhauer-Kur
verbliebenen ursprünglichen Mitglieder und all die, die der Gruppe später beitraten – an einen besseren Ort.
Julius hatte Artikel darüber geschrieben, wie Therapiegruppen Patienten halfen, aber es war ihm immer schwergefallen, eine Sprache zu finden, in der er die wirklich entscheidende Zutat zu schildern vermochte: das heilsame Milieu der Gruppe. In einem Text verglich er es mit der Behandlung schwerer Verbrennungen, bei der der Patient in lindernde Haferschleimbäder getaucht wird.
Einer der größten Vorzüge daran, eine Gruppe zu leiten – der in der Fachliteratur nie erwähnt wurde –, war der, dass eine potente Therapiegruppe dem Therapeuten oft ebenso zuträglich ist wie den Patienten. Obgleich Julius nach einem Treffen schon häufig persönliche Erleichterung verspürt hatte, war er sich des genauen Mechanismus nie ganz sicher. War sie einfach das Resultat dessen, dass er sich anderthalb Stunden lang vergessen konnte, oder des altruistischen Akts der Therapie oder der Freude über sein eigenes Können, des Stolzes auf seine Fähigkeiten und des Genusses der Hochachtung anderer? Oder all das zusammen? Julius gab den Versuch auf, der Sache genauer auf den Grund zu gehen, und akzeptierte seit einigen Jahren die volkstümliche Erklärung, wonach es einfach darum ging, in das heilende Wasser der Gruppe einzutauchen.
Seiner Therapiegruppe von seinem Melanom zu berichten, erschien ihm als folgenschwere Tat. Es war eine Sache, so dachte er, gegenüber Familie, Freunden und all den anderen Leuten hinter den Kulissen offen zu sein, doch eine ganz andere, sich vor seinem wichtigsten Publikum zu entlarven, vor jener erlesenen Gruppe, für die er Heiler, Arzt, Priester und Schamane war. Es war ein unwiderruflicher Schritt, das öffentliche Eingeständnis, dass er ausgedient hatte, dass sein Leben nicht mehr aufwärts strebte, in Richtung einer schöneren, helleren Zukunft.
Julius hatte ziemlich oft an Pam, die fehlende Teilnehmerin,
gedacht, die auf Reisen war und erst in einem Monat zurückkehren würde. Er bedauerte, dass sie bei seiner heutigen Offenbarung nicht anwesend sein konnte. Für ihn war sie das wichtigste Mitglied der Gruppe, stets auf tröstliche, heilsame Weise für andere präsent – auch für ihn. Und ihn bekümmerte die Tatsache, dass die Gruppe nicht in der Lage gewesen war, ihr aus ihrer extremen Wut und den obsessiven Gedanken an ihren Ehemann und einen Ex-Liebhaber herauszuhelfen, so dass Pam in ihrer Verzweiflung in einem buddhistischen Meditationszentrum in Indien Hilfe gesucht hatte.
Und so betrat Julius, erregt und aufgewühlt von all diesen Gefühlen, am selben Nachmittag um halb fünf den Gruppenraum. Die Mitglieder saßen bereits und waren in Papiere vertieft, die bei Julius’ Ankunft verschwanden.
Seltsam, dachte er. Hatte er sich verspätet? Er warf einen raschen Blick auf die Uhr. Nein, Punkt halb fünf. Er schob den Gedanken beiseite und begann mit dem Vortrag seiner vorbereiteten Verlautbarung.
»Gut, fangen wir an. Wie Sie wissen, leite ich ein Treffen eigentlich nie selbst ein, aber heute ist eine Ausnahme, weil es etwas gibt, das ich mir von der Seele reden muss, etwas, über das es mir schwer fällt zu sprechen. Also, los geht’s.
Vor ungefähr einem Monat erfuhr ich, dass ich eine ernsthafte, ich will ehrlich sein, mehr als ernsthafte – eine lebensbedrohliche Form von Hautkrebs habe, ein bösartiges Melanom. Ich dachte, ich sei völlig gesund, das Ganze ergab sich aus einer ärztlichen Routineuntersuchung . . .«
Julius hielt inne. Irgendetwas stimmte nicht. Die Mienen und die Körpersprache der Mitglieder waren anders, als sie hätten sein sollen. Ihre Haltung war falsch. Sie hätten sich zu ihm hinwenden, sich auf ihn konzentrieren müssen; stattdessen sah ihn keiner offen an, keiner begegnete seinem Blick, aller Augen waren abgewandt, auf nichts Bestimmtes gerichtet, außer denen Rebeccas, die verstohlen das Blatt Papier in ihrem Schoß studierte.
»Was ist los?«, fragte Julius. »Ich habe das Gefühl, gar keinen Kontakt zu Ihnen zu haben. Sie scheinen heute alle mit etwas anderem beschäftigt zu sein. Und, Rebecca, was lesen Sie denn da?«
Rebecca faltete das Blatt sofort zusammen, vergrub es in ihrer Handtasche und mied Julius’ Blick. Alle saßen schweigend da, bis Tony das Wort ergriff.
»Also, ich muss was sagen. Ich kann nicht für Rebecca sprechen, nur in eigener Sache. Als Sie eben redeten, war mein Problem, dass ich schon wusste, was Sie
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