Die Schopenhauer-Kur
stehenden Stadtvierteln lagerten, die damals in Fässer mit heißem Essig getaucht werden mussten, ehe sie befördert wurden. In Lyon registrierte er, dass die Menschen gleichgültig über genau jenen Platz hinwegschritten, auf dem während der französischen Revolution ihre Väter und Brüder umgebracht worden waren.
Auf einem Internat in Wimbledon, wo Lord Nelson einst Schüler gewesen war, vervollkommnete Arthur sein Englisch; er besuchte öffentliche Hinrichtungen und Auspeitschungen bei der Marine, Hospitäler und Asyle und durchstreifte allein die riesigen, übervölkerten Slums von London.
Buddha lebte als junger Mann im Palast seines Vaters, wo ihm der gewöhnliche Teil der Menschheit verborgen blieb. Erst bei seinem ersten Ausflug in die Außenwelt sah er die drei großen Schrecken des Lebens: Krankheit, Altersschwäche und Tod. Seine Entdeckung der tragischen und furchtbaren Natur des Seins bewegte Buddha dazu, der Welt zu entsagen und nach einer Erleichterung des universellen Leidens zu suchen.
Arthur Schopenhauers Leben und Werk wurde durch frühe Bilder des Leidens ebenfalls grundlegend beeinflusst. Die Ähnlichkeit seiner Erfahrungen mit denen Buddhas entging ihm nicht, und Jahre später schrieb er über seine Reise: »In meinem 17ten Jahre, ohne alle gelehrte Schulbildung, wurde ich vom Jammer des Lebens so ergriffen, wie Buddha in seiner Jugend, als er Krankheit, Alter, Schmerz und Tod erblickte.« Ref 22
Arthur hatte nie eine religiöse Phase; er war nicht gläubig, hatte jedoch in seiner Jugend den Wunsch zu glauben, um der Entsetzlichkeit eines total bedeutungslosen Daseins zu entfliehen. Hätte er allerdings an die Existenz Gottes geglaubt, so wäre er auf seiner Reise durch die Schrecken der europäischen Zivilisation auf eine harte Probe gestellt worden. Im Alter von achtzehn schrieb er: »Diese Welt soll ein Gott gemacht haben? Nein, eher ein Teufel – !« Ref 23
»Die werden die meisten, wenn sie am Ende zurückblicken,
finden, daß sie ihr ganzes Leben hindurch ad interim gelebt
haben, und verwundert sein, zu sehn, daß das, was sie so
ungeachtet und ungenossen vorübergehn ließen, eben ihr
Leben war, eben das war, in dessen Erwartung sie lebten.
Und so ist denn der Lebenslauf des Menschen in der Regel
dieser, daß er, von der Hoffnung genarrt, dem Tode in die Ref 24
Arme tanzt.«
13
Das Problem mit dir, liebes Kätzchen, ist,
Dass du irgendwann eine Katze bist.
Das Problem mit dir, liebes Kätzchen, ist,
Dass du irgendwann eine Katze bist.
Mit einem Ruck riss Julius den Kopf hoch, um den lästigen Vers aus seinem Kopf zu verscheuchen, setzte sich im Bett auf und öffnete die Augen. Es war sechs Uhr morgens, eine Woche später, der Tag des nächsten Gruppentreffens, und jene alten Zeilen von Ogden Nash, die ihm im Kopf herumschwirrten, waren die Hintergrundmusik für eine weitere Nacht mit zu wenig Schlaf gewesen.
Obwohl sich alle darin einig sind, dass das Leben aus einem verdammten Verlust nach dem anderen besteht, wissen nur wenige, dass einer der schlimmsten Verluste, die uns in späteren Jahren erwarten, der einer gut durchgeschlafenen Nacht ist. Julius hatte diese Lektion nur allzu gründlich gelernt. Bei ihm verging die Nacht mit oberflächlichem Dösen,
das fast nie die Sphäre des tiefen, gesegneten Deltawellenschlummers erreichte; sein Schlaf wurde von so häufigem Aufwachen unterbrochen, dass er oft Angst davor hatte, zu Bett zu gehen. Wie die meisten an Schlaflosigkeit Leidenden hatte er am Morgen das Gefühl, viel weniger geschlafen zu haben, als es tatsächlich der Fall war, oder die ganze Nacht wach gelegen zu haben. Oft konnte er sich nur dadurch klarmachen, dass er geschlafen hatte, indem er seine nächtlichen Gedanken einer sorgfältigen Prüfung unterzog und erkannte, dass er in wachem Zustand niemals so ausführlich über derart bizarre, irrationale Dinge nachgegrübelt hätte.
Aber heute Morgen wusste er überhaupt nicht, wie lange er geschlafen hatte. Der Kätzchen-Katze-Vers musste aus dem Reich der Träume stammen, doch seine sonstigen nächtlichen Gedanken waren in einem Niemandsland angesiedelt und besaßen weder die Klarheit und Zielstrebigkeit des vollen Bewusstseins noch die schrullige Launenhaftigkeit von Traumbildern.
Julius setzte sich im Bett auf und überdachte den Vers mit geschlossenen Augen, womit er den Anweisungen folgte, die er seinen Patienten gab, um es ihnen zu erleichtern, sich nächtliche Fantasien, Bilder beim Einschlafen und
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