Die Schopenhauer-Kur
Julius vor Verzweiflung, wenn er daran dachte, dass seine übergroße Zufriedenheit mit Miriam, die wahrhaft idyllischen, erhebenden Augenblicke des Lebens, gekommen und vergangen waren, ohne dass er sie vollständig erfasst hatte. Selbst heute noch, nach einem Jahrzehnt, konnte er ihren Namen nicht in einem Zug aussprechen, sondern musste nach jeder Silbe eine Pause machen. Er wusste auch, dass ihm
keine Frau je wieder wirklich etwas bedeuten würde. Mehrere weibliche Wesen hatten ihn vorübergehend seiner Einsamkeit entrissen, aber es dauerte nicht lange, bis er und sie erkannten, dass sie Miriam nie ersetzen würden. In jüngster Zeit wurde seine Einsamkeit durch einen großen Kreis männlicher Freunde gemildert, von denen etliche seiner psychiatrischen Selbsthilfegruppe angehörten, und durch seine beiden Kinder. In den letzten Jahren hatte er jeden Urlaub mit ihnen und seinen fünf Enkeln verbracht.
Aber all diese Überlegungen und Reminiszenzen waren nur kurze Filmeinblendungen und Gedankensplitter gewesen – die Hauptrolle bei seiner nächtlichen Gehirntätigkeit hatte die Rede gespielt, die er der Therapiegruppe heute Nachmittag halten wollte.
Er hatte sich gegenüber vielen seiner Freunde und seinen Einzeltherapiepatienten bereits zu seiner Krebserkrankung bekannt, aber sein »Coming-out« vor der Gruppe bereitete ihm merkwürdigerweise starke Kopfschmerzen. Julius war der Meinung, es hätte etwas damit zu tun, dass er in seine Therapiegruppe verliebt war. Seit fünfundzwanzig Jahren schaute er jedem Treffen mit Freude und Spannung entgegen. Die Gruppe war mehr als eine Ansammlung von Menschen; sie hatte ein eigenes Leben, eine eigene Persönlichkeit. Obwohl keines der ursprünglichen Mitglieder (bis auf ihn selbst natürlich) noch in der Gruppe war, besaß sie ein stabiles, beharrliches Selbst, eine innere Kultur (im Jargon eine einzigartige Kollektion von »Normen« – ungeschriebenen Regeln), die unsterblich schien. Kein einziges Mitglied hätte diese Gruppennormen aufsagen können, doch alle waren sich einig darin, welches Verhalten angemessen war und welches nicht.
Die Treffen der Gruppe erforderten mehr Energie als alle übrigen Unternehmungen in der Woche, und Julius hatte sich immer angestrengt, sie über Wasser zu halten. Als ehrwürdiges Schiff der Barmherzigkeit hatte sie eine Horde gequälter Menschen in sicherere, mehr Glück verheißende Häfen befördert.
Wie viele? Nun ja, da der durchschnittliche Verbleib bei zwei bis drei Jahren lag, schätzte Julius die Anzahl auf mindestens einhundert Passagiere. Ab und zu gingen ihm Erinnerungen an ehemalige Mitglieder durch den Kopf, Bruchstücke eines Wortwechsels, das flüchtige Bild eines Gesichts oder Vorfalls. Welch traurige Vorstellung, dass diese Erinnerungsfetzen alles waren, was von solch ergiebigen, kraftvollen Zeiten blieb, von Ereignissen, die vor Leben, Bedeutsamkeit und Prägnanz nur so strotzten.
Vor vielen Jahren hatte Julius damit experimentiert, die Treffen auf Video aufzuzeichnen und bei der folgenden Zusammenkunft besonders problematische Passagen abzuspielen. Diese alten Bänder hatten ein archaisches Format, das mit den zeitgenössischen Videogeräten nicht mehr kompatibel war. Manchmal hatte er Lust, sie aus seinem Lagerraum im Keller zu holen, sie konvertieren zu lassen und damit ehemalige Patienten wieder zum Leben zu erwecken. Aber er tat es nie; er ertrug es nicht, sich dem Beweis auszusetzen, wie illusorisch das Leben war, das da auf glänzendes Band gespeichert wurde, wie schnell jeder gegenwärtige und jeder künftige Moment im Nichts elektromagnetischer Wellen zerrann.
Gruppen brauchen Zeit, um Stabilität und Vertrauen zu entwickeln. Oft hat eine neue Gruppe Schwierigkeiten mit Mitgliedern, die es aus Mangel an Motivation oder Befähigung nicht schaffen, sich der Gruppenaufgabe zu stellen (das heißt, mit den anderen zu interagieren und diese Interaktion zu analysieren). Dann kann es sein, dass sie Wochen voller Unruhe und Konflikte durchstehen muss, in denen die Mitglieder um eine günstige Position in Sachen Macht, Aufmerksamkeit und Einfluss kämpfen, doch irgendwann wächst das Vertrauen, und die Heilsamkeit der Atmosphäre nimmt an Stärke zu. Sein Kollege Scott hatte eine Therapiegruppe einmal mit einer im Gefecht errichteten Brücke verglichen. Im frühen, formativen Stadium waren zahlreiche Opfer (also Aussteiger) zu beklagen, aber sobald die Brücke stand, beförderte sie viele Menschen
– die
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