Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Schopenhauer-Kur

Die Schopenhauer-Kur

Titel: Die Schopenhauer-Kur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irvin D. Yalom
Vom Netzwerk:
ungefähr tausend Frauen gevögelt hat, ohne auch nur das geringste Interesse oder Mitgefühl für sie zu empfinden.
    Doch er behielt all diese Gedanken für sich und reinigte seinen Geist allmählich von jedem Groll, indem er die Ereignisse erwog, die der letzten Sitzung gefolgt waren. Ihm wurde klar, dass die Gruppe Philip natürlich zum Kaffeetrinken gedrängt hatte und dass Philip sich durch den Gruppendruck zum Mitgehen hatte hinreißen lassen – eigentlich war er selbst daran schuld, weil er Philip nicht über diese regelmäßigen Anschlusstreffen informiert hatte. Und natürlich fragte die Gruppe Philip, warum er eine Therapie machte – Gill hatte völlig Recht, die Gruppe ließ es sich nie entgehen, einem neuen Mitglied diese Frage zu stellen, und natürlich musste Philip daraufhin ihre ungewöhnliche gemeinsame Geschichte und den daraus folgenden Therapievertrag offenbaren – was blieb ihm anderes übrig? Was das Verteilen medizinischer Daten über
maligne Melanome betraf – das war Philips eigene Idee und zweifellos seine Methode, sich bei der Gruppe einzuschmeicheln.
    Julius fühlte sich aus dem Gleichgewicht gebracht, kein Lächeln wollte über seine Lippen kommen, dennoch riss er sich zusammen und fuhr fort. »Ich werde, so gut es geht, darüber reden. Rebecca, lassen Sie mich mal einen Blick auf das Blatt werfen.« Julius überflog es rasch. »Die medizinischen Fakten scheinen korrekt zu sein, deshalb wiederhole ich sie nicht, sondern berichte Ihnen nur, was ich erlebt habe. Es fing damit an, dass mein Arzt ein ungewöhnliches Mal auf meinem Rücken entdeckte, das sich durch eine Biopsie tatsächlich als bösartiges Melanom erwies. Natürlich habe ich aus dem Grund die Gruppentreffen damals abgesagt – habe zwei schwierige Wochen durchgemacht, wirklich schwierig, in denen mir erst alles so richtig bewusst wurde.« Julius’ Stimme zitterte. »Wie Sie sehen, ist es immer noch schwierig.« Er hielt inne, holte tief Luft und sprach weiter. »Meine Ärzte können die Zukunft nicht vorhersagen, aber wichtig ist, dass sie der Meinung sind, ich hätte noch mindestens ein Jahr bei guter Gesundheit vor mir. Diese Gruppe wird also die nächsten zwölf Monate in Betrieb bleiben. Nein, warten Sie, ich will es so formulieren: Wenn meine Gesundheit es erlaubt, verpflichte ich mich, mich ein weiteres Jahr mit Ihnen zu treffen, dann ist Schluss mit der Gruppe. Tut mir Leid, dass ich das so unbeholfen ausdrücke, aber ich habe keine Übung darin.«
    »Julius, ist die Krankheit ernsthaft lebensbedrohlich?«, fragte Bonnie. »Philips Internet-Daten . . . all diese Statistiken, die darauf basieren, dass entscheidend ist, wie weit der Krebs fortgeschritten ist?«
    »Direkte Frage. Die direkte Antwort ist ›ja‹ – mein Zustand ist definitiv lebensbedrohlich. Die Chancen stehen gut, dass dieses Ding mich irgendwann erwischt. Ich weiß, dass das keine einfache Frage für Sie war, aber ich weiß Ihre Offenheit zu schätzen, Bonnie, weil ich ebenso bin wie die meisten Menschen
mit einer schweren Krankheit – ich hasse es, wenn man darum herumredet. Das würde mich bloß isolieren und ängstigen. Ich muss mich an meine neue Realität gewöhnen. Es gefällt mir zwar nicht, aber mein Leben als gesunde, sorglose Person – also, das Leben geht auf jeden Fall seinem Ende entgegen.«
    »Ich muss daran denken, was Philip letzte Woche zu Gill gesagt hat. Gibt es denn für Sie auch irgendetwas von Wert an der ganzen Sache?«, fragte Rebecca. »Ich bin mir nicht sicher, ob es beim Kaffeetrinken war oder hier in der Gruppe – aber es hatte etwas damit zu tun, dass man sich oder sein Leben über seine Bindungen definiert. Stimmt das so, Philip?«
    »Als ich letzte Woche mit Gill redete«, sagte Philip, der in gemessenem Ton und ohne jeden Blickkontakt sprach, »habe ich darauf hingewiesen, dass das Leben umso belastender wird, je mehr Bindungen man hat, und dass man umso mehr leidet, wenn man dieser Bindungen beraubt wird. Schopenhauer und der Buddhismus behaupten beide, dass man sich von Bindungen befreien muss und –«
    »Ich glaube nicht, dass mir das hilft«, unterbrach ihn Julius, »und ich bin auch nicht sicher, ob das heutige Treffen in diese Richtung weiterlaufen sollte.« Er bemerkte, dass Rebecca und Gill einen kurzen, bedeutungsvollen Blick wechselten, fuhr jedoch fort. »Ich bin der gegenteiligen Meinung: Bindungen, und zwar viele, sind der unverzichtbare Bestandteil eines erfüllten Lebens, und sie zu

Weitere Kostenlose Bücher