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Die Schopenhauer-Kur

Die Schopenhauer-Kur

Titel: Die Schopenhauer-Kur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irvin D. Yalom
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Träume ins Gedächtnis zu rufen. Das Gedicht richtete sich an diejenigen, die Katzenjunge liebten, nicht aber die ausgewachsenen Tiere. Doch was hatte das mit ihm zu tun? Er liebte Kätzchen und Katzen gleichermaßen, hatte die zwei Katzen im Laden seines Vaters geliebt, deren Kinder und die Kinder ihrer Kinder ebenso und verstand nicht, warum der Vers so ermüdend lange in seinem Kopf verweilte.
    Andererseits war er vielleicht eine grausame Erinnerung daran, dass er, Julius Hertzfeld, sein Leben lang dem falschen Mythos gehuldigt hatte: dass sich nämlich für ihn alles – sein Vermögen, seine Geisteskraft, sein Ruhm – ständig mehrte und steigerte, dass das Leben immer besser würde. Jetzt war ihm natürlich klar, dass das Gegenteil zutraf – dem Gedicht gemäß
 –, dass seine unschuldigen, kätzchenhaften Anfänge, die Munterkeit, die Versteck- und Fangspiele und der Bau von Festungen aus den leeren Schnapsflaschenkartons im Laden seines Vaters, unbelastet von Schuld, Arglist, Wissen oder Pflicht, die beste Zeit seines Lebens gewesen waren und dass sich im Laufe der Tage und Jahre die Intensität seines Feuers abgeschwächt hatte und das Dasein unerbittlich härter geworden war. Das Allerschlimmste war ihm als Letztes zugedacht. Er entsann sich an Philips Worte über die Kindheit beim vorigen Treffen. Kein Zweifel: In der Hinsicht hatten Nietzsche und Schopenhauer Recht.
    Julius nickte betrübt. Es stimmte, dass er nie richtig den Moment ausgekostet, nie die Gegenwart genossen, sich nie gesagt hatte: »Das ist es, dieser Zeitpunkt, dieser Tag – das ist es, was ich will! Dies sind die guten alten Zeiten, genau jetzt. Lass mich in diesem Augenblick verharren, lass mich auf ewig in diesem Ort wurzeln.« Nein, er hatte stets geglaubt, das saftigste Fleisch des Lebens noch nicht gefunden zu haben, und es hatte ihn immer nach der Zukunft gelüstet – nach den Jahren, in denen er älter, klüger, größer, mächtiger wäre. Und dann kam der Umbruch, die Zeit der großen Umkehr, die plötzliche und alles umwälzende Entidealisierung der Zukunft und der Beginn der schmerzlichen Sehnsucht nach dem, was früher gewesen war.
    Wann hatte dieser Umbruch stattgefunden? Wann trat Nostalgie an die Stelle der goldenen Verheißung des Morgen? Nicht im College, als Julius alles als Vorspiel (oder Behinderung) jenes wichtigen Schrittes ansah: der Zulassung zum Medizinstudium. Nicht auf der Universität, wo er sich in den ersten Jahren aus den Vorlesungssälen fort auf die Krankenhausstationen gesehnt hatte, danach, Mitarbeiter einer Klinik zu sein mit einem weißen Kittel und Stethoskop, das ihm aus der Tasche hing oder lässig um seinen Hals geschlungen war wie ein Schal aus Stahl und Gummi. Nicht während der Praktika im dritten und vierten Jahr seines Medizinstudiums, als er endlich
seinen Platz auf den Stationen einnahm. Dort verlangte es ihn nach mehr Autorität – danach, wichtig zu sein, bedeutende klinische Entscheidungen zu fällen, Leben zu retten, sich die blaue Chirurgentracht anzuziehen und einen Patienten auf einer Trage den Flur entlang in den OP zu kutschieren, um nach einem Unfall eine Notoperation an ihm vorzunehmen. Nicht einmal, als er leitender Assistenzarzt in den Psychiatrie wurde, hinter den Vorhang des Schamanismus spähte und niedergeschmettert war angesichts der Grenzen und Unwägbarkeiten des von ihm gewählten Berufs.
    Zweifellos hatte Julius’ chronischer und hartnäckiger Widerwille dagegen, das Jetzt zu genießen, sich verheerend auf seine Ehe ausgewirkt. Obwohl er Miriam von dem Moment an, als in der zehnten Klasse sein Blick auf sie gefallen war, geliebt hatte, nahm er es ihr zugleich übel, dass sie ein Hindernis auf seinem Weg zu einer Vielzahl von Frauen war, an denen sich zu erfreuen er sich berechtigt fühlte. Er hatte nie völlig akzeptiert, dass seine Partnersuche vorbei war oder dass seine Freiheit, seiner Lust zu folgen, auch nur im Geringsten beschnitten war. Als er sein Praktikum anfing, stellte er fest, dass die Unterkünfte des Personals direkt neben dem Schwesternwohnheim lagen, wo es von reizenden jungen Mädchen wimmelte, die Ärzte anhimmelten. Es war ein regelrechter Selbstbedienungsladen, und er hatte sich mit Bonbons in allen Farben des Regenbogens voll gestopft.
    Die Umkehr konnte erst nach Miriams Tod stattgefunden haben. In den zehn Jahren, seit der Autounfall sie ihm genommen hatte, war er ihr zärtlicher zugetan als zu ihren Lebzeiten. Manchmal würgte es

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