Die Schopenhauer-Kur
meiden, weil man späteres Leiden fürchtet, ist der sichere Weg zu einem nur halb gelebten Leben. Ich will Ihnen nicht das Wort abschneiden, Rebecca, aber ich fände es sinnvoller, wenn wir zu Ihren Reaktionen auf das, was ich angekündigt habe, zurückkehrten, den Reaktionen von Ihnen allen. Von meinem Krebs zu erfahren, weckt doch bestimmt starke Empfindungen. Viele von Ihnen kenne ich ja schon lange.« Julius hielt inne und schaute sich im Kreis seiner Patienten um.
Tony, der tief in seinen Sessel gerutscht war, regte sich. »Also,
ich war geschockt, als Sie vorhin sagten, wie lange Sie diese Gruppe noch leiten könnten – das ging mir unter die Haut, für wie dickfellig man mich auch hält. Na ja, ich kann nicht leugnen, dass mir das auch durch den Kopf schoss, aber, Julius, hauptsächlich bewegt mich, was es für Sie bedeutet . . . ich meine, Sie sind ganz schön, ich meine... wirklich wichtig für mich, haben mir bei einigen echt üblen Geschichten geholfen . . . ich meine, gibt es etwas, das ich für Sie tun kann, wir für Sie tun können? Das Ganze muss doch furchtbar für Sie sein.«
»Die Frage gilt auch für mich«, sagte Gill, und alle anderen (bis auf Philip) äußerten ihre Zustimmung.
»Ich werde Ihnen antworten, Tony, aber zunächst möchte ich sagen, wie gerührt ich bin und dass es Ihnen noch vor ein paar Jahren unmöglich gewesen wäre, so direkt zu sein, so großzügig. Doch um Ihre Frage zu beantworten: Es ist furchtbar. Meine Gefühle kommen in Wellen. In den ersten zwei Wochen, als ich die Treffen absagte, war ich völlig am Boden zerstört. Habe ohne Ende mit meinen Freunden gesprochen, mit allen aus meinem Selbsthilfekontext. Jetzt, in diesem Moment, geht es mir besser. Man gewöhnt sich an alles, sogar an eine tödliche Krankheit. Letzte Nacht ging mir immer wieder der Refrain: ›Das Leben ist einfach ein verdammter Verlust nach dem anderen‹ durch den Kopf.«
Julius hielt inne. Keiner sprach. Alle starrten zu Boden. Julius fügte hinzu: »Ich möchte offen damit umgehen . . . bin bereit, über alles zu reden . . . ich werde vor nichts zurückscheuen . . . aber wenn Sie keine spezifische Frage haben, habe ich jetzt genug gesagt, und außerdem verspüre ich nicht das Bedürfnis, das ganze heutige Treffen mir zu widmen. Ich habe die Energie, hier auf meine übliche Weise mit Ihnen zu arbeiten. Es ist sogar wichtig für mich, dass wir fortfahren wie bisher.«
Nach kurzem Schweigen sagte Bonnie: »Ich will aufrichtig sein, Julius, es gibt etwas, das ich ansprechen könnte, aber ich weiß nicht . . . meine Probleme erscheinen mir unbedeutend im Vergleich zu dem, was Sie durchmachen.«
Gill schaute auf und fügte hinzu: »Mir auch. Meine Geschichten – ob ich nun lerne, mit meiner Frau zu reden, bei ihr bleibe oder das sinkende Schiff verlasse –, all das kommt mir vergleichsweise trivial vor.«
Philip griff das als Stichwort auf. »Spinoza gebrauchte gern eine lateinische Wendung, sub specie aeternitatis, was ›unter dem Aspekt der Ewigkeit‹ heißt. Er meinte, dass verstörende Ereignisse des Alltags weniger beunruhigend werden, wenn man sie unter dem Aspekt der Ewigkeit betrachtet. Dieses Konzept wird als Werkzeug der Psychotherapie womöglich unterschätzt. Vielleicht«, und hier wandte sich Philip an Julius und sprach ihn direkt an, »bietet es Ihnen sogar angesichts der ernsthaften Bedrohung, der Sie sich gegenübersehen, eine Form von Trost.«
»Ich merke, dass Sie versuchen, mir etwas zu geben, Philip, und das weiß ich zu würdigen. Aber im Moment ist die Vorstellung, eine kosmische Sichtweise aufs Leben anzunehmen, keine gute Medizin für mich. Ich will Ihnen auch sagen, warum. Letzte Nacht schlief ich schlecht und war plötzlich traurig darüber, dass ich nie das zu schätzen wusste, was genau in dem Augenblick, als es passierte, geschah. Als ich jung war, sah ich die Gegenwart immer nur als Vorspiel zu etwas Besserem an. Und dann verstrichen die Jahre, und auf einmal stellte ich bei mir das Gegenteil fest – ich schwelgte in Nostalgie. Was ich nicht genug getan habe, war, jeden einzelnen Moment zu genießen, und das ist das Problem an Ihrer Lösung mit dem Abstandnehmen. Ich glaube, sie bedeutet, das Leben durch das falsche Ende des Teleskops zu sehen.«
»Hier muss ich mal eine Beobachtung einflechten, Julius«, sagte Gill. »Ich habe den Eindruck, die Chance ist nicht groß, dass Sie irgendetwas akzeptieren, das Philip sagt.«
»Einer Beobachtung schenke ich
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