Die Schopenhauer-Kur
immer Aufmerksamkeit, Gill. Aber das ist eine Meinung. Wo ist die Beobachtung?«
»Na ja, die Beobachtung ist die, dass Sie einfach nichts respektieren, was er Ihnen anbietet.«
»Ich weiß, was Julius dazu sagen würde, Gill«, sagte Rebecca. »Das ist immer noch keine Beobachtung, es ist eine Mutmaßung über seine Gefühle. Was ich beobachte« – sie wandte sich an Julius –, »ist Folgendes: Dies ist das erste Mal, dass Sie und Philip sich auch nur halbwegs direkt angesprochen haben und dass Sie Philip heute ein paar Mal unterbrochen haben; das erlebe ich sonst nie bei Ihnen.«
»Touché, Rebecca«, erwiderte Julius. »So ist es richtig – eine persönliche und akkurate Beobachtung.«
»Julius«, sagte Tony, »ich komme nicht mehr mit. Sie und Philip – was geht da vor? – ich kapiere es nicht. Stimmt es, dass Sie ihn aus heiterem Himmel angerufen haben?«
Julius saß ein paar Minuten mit gesenktem Kopf da und antwortete dann: »Ja, mir ist klar, wie verwirrend das für Sie alle sein muss. Okay, raus damit. Jedenfalls soweit, wie es mein Gedächtnis erlaubt. Nach meiner Diagnose bin ich in echte Verzweiflung verfallen. Ich fühlte mich, als hätte ich mein Todesurteil gehört, und das erschütterte mich. Abgesehen von anderen düsteren Gedanken fing ich an zu hinterfragen, ob irgendwas, das ich in meinem Leben getan habe, von dauerhafter Bedeutung war. Mit dieser Frage habe ich mich ein, zwei Tage lang rumgequält, und da mein Leben so sehr mit meiner Arbeit verknüpft ist, begann ich, an ehemalige Patienten zu denken. Hatte ich ihr Leben wirklich nachhaltig beeinflusst? Ich meinte, keine Zeit verlieren zu dürfen, und beschloss daher spontan, mit einigen meiner alten Patienten Kontakt aufzunehmen. Philip war der erste und bisher der einzige, den ich erreicht habe.«
»Und warum gerade Philip?«, wollte Tony wissen.
»Das ist die Vierundsechzigtausend-Dollar-Frage – oder ist das schon veraltet? – ist es mittlerweile die Vierundsechzig-Millionen-Dollar-Frage? Kurze Antwort: Ich weiß es nicht genau. Ich habe viel darüber nachgedacht. Schlau war es nicht von mir, denn wenn ich auf die Bestätigung meines Wertes aus war, hätte es eine Menge anderer Kandidaten gegeben. So sehr ich es auch volle drei Jahre lang versucht hatte, ich konnte ihm
nicht helfen. Vielleicht hoffte ich, dass er von einem verspäteten Therapieeffekt berichten würde – manche Patienten tun das. Doch der hatte sich bei ihm nicht eingestellt. Vielleicht war ich masochistisch – wollte es noch mal so richtig wissen. Vielleicht habe ich mir meinen größten Misserfolg ausgesucht, um mir eine zweite Chance zu geben. Ich gebe es zu – eigentlich kenne ich meine Motive nicht. Und dann erzählte Philip mir im Laufe unseres Gesprächs von seinem Berufswechsel und fragte, ob ich bereit wäre, ihn zu supervisieren. Philip«, Julius wandte sich Philip zu, »ich nehme an, Sie haben die Gruppe darüber informiert?«
»Ich habe die notwendigen Details geliefert.«
»Können Sie noch ein bisschen kryptischer sein?«
Philip schaute beiseite, der Rest der Gruppe wirkte unangenehm berührt, und nach langem Schweigen sagte Julius: »Entschuldigen Sie meinen Sarkasmus, Philip, aber ist Ihnen klar, dass Sie mich mit dieser Antwort im Regen stehen lassen?«
»Wie ich schon sagte, ich habe den anderen die notwendigen Details geliefert«, meinte Philip.
Bonnie drehte sich zu Julius um. »Ich will offen sein. Ich fühle mich unwohl und werde Sie erlösen. Ich finde, Sie dürfen heute nicht genervt werden – ich finde, wir müssen uns große Mühe mit Ihnen geben. Bitte, was können wir für Sie tun?«
»Danke, Bonnie, Sie haben Recht, ich fühle mich aus dem Gleichgewicht gebracht heute – Ihre Frage ist wirklich lieb, aber ich bin nicht sicher, ob ich sie beantworten kann. Ich verrate Ihnen allen ein großes Geheimnis: Es hat Tage gegeben, an denen es mir beim Betreten dieses Raums aus persönlichen Gründen schlecht ging und beim Rausgehen besser nur deshalb, weil ich Teil dieser fantastischen Gruppe war. Vielleicht ist das die Antwort auf Ihre Frage. Für mich ist es das Beste, wenn Sie alle die Gruppe weiterhin nutzen und nicht zulassen, dass meine Situation den totalen Stillstand verursacht.«
Nach kurzem Schweigen sagte Tony: »Schwierige Aufgabe nach dem, was heute hier geäußert wurde.«
»Genau«, meinte Gill. »Es käme mir unpassend vor, über irgendwas anderes zu reden.«
»Das sind so die Zeiten, in denen ich
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