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Die Schopenhauer-Kur

Die Schopenhauer-Kur

Titel: Die Schopenhauer-Kur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irvin D. Yalom
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Ich laufe schneller. Ich sehe den Speisewagen voll gut gekleideter Menschen, die essen und Wein trinken. Ich bin mir nicht sicher, wo ich einsteigen soll. Inzwischen fährt der Zug schneller, und die letzten Waggons werden immer schäbiger, und ihre Fenster sind verrammelt. Der letzte Waggon, der Dienstwagen, ist nur noch ein Gerippe, das regelrecht auseinanderfällt, und ich sehe, wie er sich von mir entfernt, und ich höre das Pfeifen des Zuges so laut, dass es mich gegen vier Uhr morgens weckt. Mein Herz klopfte, ich war schweißgebadet und konnte nicht mehr einschlafen.«
    »Sehen Sie den Zug noch vor sich?«, fragte Julius.
    »Klar und deutlich. Wie er sich auf den Schienen entfernt. Der Traum ist jetzt noch beängstigend. Unheimlich.«

    »Wissen Sie, was ich glaube?«, sagte Tony. »Ich glaube, dass der Zug die Gruppe ist und dass Julius’ Krankheit sie auseinanderfallen lässt.«
    »Genau«, sagte Stuart, »der Zug ist die Gruppe – er befördert einen irgendwohin und versorgt einen mit Nahrung – die Leute im Speisewagen.«
    »Ja, aber warum konnten Sie nicht einsteigen? Sind Sie gerannt?« , fragte Rebecca.
    »Ich bin nicht gerannt; es war, als ob ich wusste, dass ich nicht einsteigen kann.«
    »Seltsam. Als ob Sie einsteigen wollten, aber gleichzeitig auch wieder nicht«, sagte Rebecca.
    »Mit Sicherheit habe ich mich nicht sehr darum bemüht.«
    »Vielleicht hatten Sie Angst einzusteigen?«, fragte Gill.
    »Habe ich Ihnen erzählt, dass ich verliebt bin?«, sagte Julius.
    Stille senkte sich auf die Gruppe. Tödliches Schweigen. Julius schaute mit schelmischem Blick in die verwirrten und besorgten Gesichter rundum.
    »Ja, verliebt in diese Gruppe, vor allem, wenn sie so arbeitet wie heute. Großartig, wie Sie sich mit dem Traum auseinandersetzen. Sie sind schon toll. Lassen Sie mich meine eigene Vermutung hinzufügen – ich frage mich, Bonnie, ob der Zug nicht auch ein Symbol für mich ist. Er stank nach Tod und Finsternis. Und wenn er, wie Stuart meinte, Nahrung bietet, so versuche ich das ebenfalls. Aber Sie hatten Angst vor ihm – wie Sie bestimmt auch Angst vor mir haben oder vor dem, was mit mir geschieht. Und dieser letzte Waggon, der skelettartige Dienstwagen: Ist der nicht ein Sinnbild für meinen Verfall, ein Vorausblick darauf?«
    Bonnie stammelte, holte sich Papiertaschentücher aus der Schachtel in der Mitte des Raums und wischte sich die Augen. »Ich . . . äh . . . ich . . . ich weiß nicht, was ich antworten soll – das Ganze ist so unwirklich . . . Julius, Sie schaffen mich, Sie machen mich fertig damit, wie nüchtern Sie übers Sterben sprechen.«

    »Wir sterben alle, Bonnie. Ich kenne meine Rahmenbedingungen nur besser als Sie«, sagte Julius.
    »Genau das meine ich, Julius. Ich liebe Ihre Frivolität, aber jetzt, in dieser Situation, hat sie etwas Ausweichendes. Ich erinnere mich daran, dass Sie einmal sagten – es war in der Zeit, als Tony dazu verurteilt worden war, an den Wochenenden gemeinnützige Arbeit zu leisten, und wir nicht darüber redeten –, wenn die Gruppe etwas Wichtiges unter den Teppich kehre, werde auch sonst nichts von Bedeutung thematisiert.«
    »Zwei Dinge«, sagte Rebecca. »Erstens, Bonnie, wir haben gerade über etwas Wichtiges geredet – über mehrere wichtige Punkte –, und zweitens, mein Gott, was erwarten Sie von Julius? Er spricht doch darüber.«
    »Er war sogar sauer«, sagte Tony, »weil wir es von Philip hörten statt von ihm persönlich.«
    »Stimmt«, meinte Stuart. »Also, Bonnie, was erwarten Sie von ihm? Er bewältigt die Situation. Er sagt, dass er seine Selbsthilfegruppe hat, die ihm hilft, damit fertig zu werden.«
    Julius brach ab – es war weit genug gegangen.«Wissen Sie, ich weiß Ihre Unterstützung zu schätzen, doch wenn sie so stark ist, fange ich an, mir Sorgen zu machen. Ich mag ja danebenliegen, aber wissen Sie, wann Lou Gehrig beschloss, in den Ruhestand zu treten? Das war während eines Spiels, in dem die ganze Mannschaft sich in Komplimenten darüber erging, wie er einen völlig harmlosen Bodenball auffing und zurückwarf. Vielleicht glauben Sie, ich sei zu zerbrechlich, um für mich selbst zu sprechen.«
    »Also, was machen wir nun?«, fragte Stuart.
    »Zunächst mal möchte ich Ihnen, Bonnie, sagen, dass Sie eine Menge Mut damit bewiesen haben, vorzupreschen und das beim Namen zu nennen, was man normalerweise lieber verschweigt. Außerdem haben Sie absolut Recht: Ich habe hier zu ein bisschen . . . nein, zu

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