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Die Schopenhauer-Kur

Die Schopenhauer-Kur

Titel: Die Schopenhauer-Kur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irvin D. Yalom
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reichlich viel Verleugnung ermutigt.
    Ich werde jetzt eine kurze Rede halten und Ihnen alles darlegen.
Ich habe in letzter Zeit einige schlaflose Nächte gehabt und viel Zeit, um über alles nachzudenken, auch darüber, wie ich mit meinen Patienten und mit dieser Gruppe umgehe. Ich habe keine Übung darin. Kein Mensch übt sein Ende. Das ist etwas Einmaliges. Es gibt keine Lehrbücher über diese Situation  – deshalb muss ich improvisieren.
    Ich stehe vor der Entscheidung, was ich mit der Zeit anfangen soll, die mir bleibt. Was sind meine Optionen? Allen meinen Patienten absagen und mit dieser Gruppe Schluss machen? Dazu bin ich nicht bereit – ich habe noch mindestens ein Jahr bei guter Gesundheit, und meine Arbeit bedeutet mir zu viel. Und ich ziehe daraus auch eine Menge für mich selbst. Wenn ich aufhören würde zu arbeiten, würde ich mich selbst ausgrenzen. Ich habe zu viele Patienten mit tödlichen Krankheiten kennen gelernt, die mir berichtet haben, die Isolation, die mit ihrer Krankheit einhergehe, sei das Allerschlimmste.
    Und die Isolation ist eine doppelte: Erstens isoliert sich der Schwerkranke, weil er andere nicht mit in seine Verzweiflung hineinziehen will – und ich kann Ihnen versichern, dass auch mir das eine große Sorge ist –, und zweitens meiden ihn andere, weil sie nicht wissen, wie sie ihn behandeln sollen, oder weil sie mit dem Tod nichts zu tun haben wollen.
    Mich von Ihnen zurückzuziehen, ist also keine positive Option für mich und überdies, wie ich glaube, auch nicht für Sie. Ich habe viele Todkranke gesehen, die sich veränderten, klüger wurden, reifer, und andere eine Menge lehren konnten. Ich glaube, dieser Prozess setzt auch bei mir langsam ein, und ich bin überzeugt davon, dass ich Ihnen in den nächsten Monaten noch einiges zu bieten habe. Wenn wir allerdings weiter zusammenarbeiten, steht Ihnen womöglich Schweres bevor. Sie werden nicht nur mit meinem nahen Tod konfrontiert, sondern vielleicht auch mit Ihrem eigenen. Ende der Rede. Vielleicht sollten Sie alle darüber schlafen und sich klarmachen, was Sie tun wollen.«
    »Ich muss nicht darüber schlafen«, sagte Bonnie. »Ich liebe
diese Gruppe, Sie und alle Mitglieder, und ich möchte so lange hier bleiben, wie es geht.«
    Nachdem andere im Raum in Bonnies Beteuerung eingefallen waren, sagte Julius. »Ich weiß Ihr Vertrauen zu schätzen. Aber bekanntlich kann Druck sehr einschüchternd sein. Es ist schwer, sich öffentlich gegen einen Gruppenkonsens zu stellen. Es würde übermenschliche Entschlossenheit erfordern, wenn einer von Ihnen heute sagen würde: ›Tut mir Leid, Julius, aber das ist zu viel für mich; ich suche mir lieber einen gesunden Therapeuten, einen, der rüstig genug ist, um mich zu stützen. ‹
    Also, nichts Endgültiges heute. Lassen Sie uns einfach offen bleiben und in ein paar Wochen unsere Arbeit beurteilen und sehen, wie es uns dann geht. Eine große Gefahr, die Bonnie vorhin benannt hat, ist die, dass Ihnen Ihre eigenen Probleme womöglich irrelevant erscheinen. Deshalb müssen wir herausfinden, wie ich Sie am besten dazu bringen kann, weiter an ihnen zu arbeiten.«
    »Ich glaube, das tun Sie dadurch«, sagte Stuart, »dass Sie uns einfach auf dem Laufenden halten.«
    »Okay. Danke, das hilft. Jetzt aber zurück zu Ihnen.«
    Ein langes Schweigen.
    »Also fühlen Sie sich mir gegenüber vielleicht doch noch nicht frei. Lassen Sie mich etwas versuchen. Können Sie, Stuart, oder einer von den anderen, uns darlegen, was heute auf der Tagesordnung stand – welche Themen kamen zur Sprache?«
    Stuart war der informelle Gruppenhistoriker; er war mit einem so guten Gedächtnis gesegnet, dass Julius immer einen Bericht über vergangene oder aktuelle Ereignisse in der Gruppe bei ihm abrufen konnte. Er versuchte, Stuart nicht auszunutzen, der in der Gruppe war, um zu lernen, wie man andere für sich einnimmt, und nicht, um Chronist der Geschehnisse zu sein. Stuart, der mit seinen kindlichen Patienten wunderbar umgehen konnte, war absolut ratlos, wenn er jenseits seiner
Rolle als Kinderarzt soziale Kompetenz zeigen musste. Sogar bei den Gruppentreffen war seine Hemdtasche oft mit der Ausrüstung seines Gewerbes vollgestopft: Zungenstäbchen, Taschenleuchte, Lutscher, Arzneimittelproben. Seit einem Jahr eine stabile Größe in der Gruppe, hatte Stuart mit seinem »Projekt Menschwerdung«, wie er es bezeichnete, enorme Fortschritte gemacht. Trotzdem war seine zwischenmenschliche Sensibilität immer

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