Die Schopenhauer-Kur
noch so unterentwickelt, dass er über Ereignisse in der Gruppe berichtete, ohne sich viel dabei zu denken.
Er lehnte sich in seinen Sessel zurück und schloss die Augen, ehe er antwortete. »Also, mal sehn – wir haben mit Bonnie angefangen und ihrem Wunsch, über ihre Kindheit zu reden.« Bonnie kritisierte Stuart häufig, deshalb schaute er sie jetzt Zustimmung heischend an, bevor er fortfuhr.
»Nein, nicht ganz richtig, Stuart. Richtige Fakten, falscher Ton. Bei Ihnen hört es sich unernst an. Als ob ich zu meinem Vergnügen eine Geschichte erzählen wollte. Dabei gibt es viele schmerzliche Erinnerungen aus meiner Kindheit, die jetzt wieder hochkommen und mich verfolgen. Erkennen Sie den Unterschied?«
»Ich bin nicht ganz sicher. Ich habe nicht behauptet, Sie wollten es zum Vergnügen tun. Über solche Sachen beklagt sich meine Frau auch immer. Aber jetzt weiter im Text: Als Nächstes war da irgendwas mit Rebecca, die beleidigt war und wütend auf Bonnie, weil die darauf hingewiesen hat, dass sie sich aufplustert und versucht, Philip zu beeindrucken.« Stuart ignorierte Rebecca, die sich an die Stirn klatschte und »Verdammt noch mal« murmelte, und fuhr fort: »Dann hatte Tony das Gefühl, dass wir ein komplizierteres Vokabular benutzen, um Philip zu beeindrucken. Und seine Bemerkung, Philip sei ein Angeber. Und Philips scharfe Reaktion auf Tony. Und dann meine Äußerung, dass Gill sich so bemüht, Frauen nicht zu missfallen, dass er das Gefühl für sich selbst verliert.
Mal sehen, was noch . . .« Stuart ließ seinen Blick im Raum
umherschweifen. »Na ja, dann ist da noch Philip – nicht so sehr das, was er gesagt hat, wie das, was er nicht sagt. Wir reden nicht sehr viel über Philip, als ob das ein Tabu wäre. Wenn ich’s recht bedenke, reden wir nicht mal darüber, dass wir nicht über ihn reden. Und natürlich Julius. Aber daran haben wir gearbeitet. Nur dass Bonnie besonders betroffen und fürsorglich war, wie sie das bei Julius oft ist. Eigentlich fing der Teil der Sitzung, in dem es um Julius ging, mit Bonnies Albtraum an.«
»Eindrucksvoll, Stuart«, sagte Rebecca. »Und ziemlich vollständig: Sie haben nur eins ausgelassen.«
»Und das wäre?«
»Sich selbst. Die Tatsache, dass Sie mal wieder Gruppenkamera gespielt und die Gruppe fotografiert haben, statt sich in das Geschehen zu stürzen.«
Die Gruppe hatte Stuart schon oft mit der unpersönlichen Art seiner Teilnahme konfrontiert. Vor Monaten hatte er einen Albtraum geschildert, in dem seine Tochter in Treibsand getreten war und er ihr nicht hatte helfen können, weil er so viel Zeit darauf vergeudete, seine Kamera aus dem Rucksack zu holen, um einen Schnappschuss von der Szene zu machen. An dem Tag hatte Rebecca ihm das Etikett »Gruppenkamera« verpasst.
»Sie haben ganz Recht, Rebecca. Ich packe meine Kamera jetzt ein und sage Ihnen, dass ich vollkommen mit Bonnie übereinstimme: Sie sind eine gut aussehende Frau. Aber das ist keine Neuigkeit für Sie – Sie wissen das. Und Sie wissen, dass ich das finde. Und natürlich haben Sie sich vor Philip aufgeplustert – Ihr Haar festgesteckt und gelockert und berührt. Es war offensichtlich. Wie ich mich dabei gefühlt habe? Ich war ein bisschen eifersüchtig. Nein, sehr eifersüchtig – für mich haben Sie sich noch nie aufgeplustert. Keiner hat sich je für mich aufgeplustert.«
»So was gibt mir das Gefühl, als wäre ich im Gefängnis«, schoss Rebecca zurück. »Ich hasse es, wenn Männer mich auf diese Weise zu kontrollieren versuchen, bei der jede meiner Bewegungen auf dem Prüfstand steht.« Rebecca sprach abgehackt
und ließ dadurch eine Verletzlichkeit erkennen, die lange verdeckt gewesen war.
Julius erinnerte sich seiner ersten Eindrücke von Rebecca. Vor zehn Jahren, lange bevor sie der Gruppe beigetreten war, hatte er sie ein Jahr lang als Einzelpatientin gehabt. Sie war ein zartes Wesen mit dem anmutigen, schlanken Körper und dem reizenden, rehäugigen Gesicht einer Audrey Hepburn. Und wer hätte wohl ihre erste Bemerkung vergessen können: »Seit meinem dreißigsten Geburtstag fällt mir auf, dass keiner zu essen aufhört, um mich anzustarren, wenn ich ein Restaurant betrete. Ich bin am Boden zerstört.«
Zwei Quellen hatten Julius in seiner Arbeit mit ihr als Einzelpatientin und in der Gruppentherapie inspiriert. Erstens Freuds eindringliche Mahnung, einer schönen Frau als Mensch zu begegnen und sich nicht nur deshalb zurückzuhalten oder sie zu bestrafen, weil
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