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Die Schopenhauer-Kur

Die Schopenhauer-Kur

Titel: Die Schopenhauer-Kur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irvin D. Yalom
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es keinen John in ihrem Leben gegeben hätte, redete Pam sich in einem erstaunlichen Akt der Verleugnung ein, sie hätte Earl zu Gunsten ihres Liebhabers verlassen, und konfrontierte John mit dieser Version der Realität. Doch John zögerte; er war immer noch nicht so weit. Dann, eines Tages, traf er eine Entscheidung. Es geschah im Juni am letzten Tag der Vorlesungen, gleich nach einem ekstatischen Fest der Liebe in ihrer üblichen Laube, nämlich auf der unter seinem Schreibtisch ausgerollten blauen Schaumstoffmatratze auf dem Hartholzfußboden seines Büros. (In den Büros von Englisch-Professoren waren keine Sofas zu finden; der Fachbereich war derart heimgesucht von Beschuldigungen gegen Professoren, die es auf ihre Studentinnen abgesehen hätten, dass Sofas verbannt worden waren.) Nachdem John den Reißverschluss seiner Hose hochgezogen hatte, schaute er sie kummervoll an. »Pam, ich liebe dich. Und weil ich dich liebe, habe ich mich zu einer Entscheidung durchgerungen. Das Ganze ist unfair dir gegenüber, und ich möchte den Stress mindern – besonders für dich, aber auch für mich. Ich habe beschlossen, das Abkommen mit dir zu treffen, dass wir uns nicht mehr sehen.«

    Pam war wie betäubt. Sie hörte seine Worte kaum. Noch Tage lang fühlte sich seine Botschaft wie eine riesige Pille in ihren Gedärmen an, die zu groß war, um sie zu verdauen, zu schwer, um sie wieder von sich zu geben. Stunde um Stunde schwankte sie zwischen Hass und Liebe und Begehren und dem Wunsch, er möge tot sein. Im Geiste spulte sie ein Szenario nach dem anderen ab. John und seine Familie starben bei einem Autounfall. Johns Frau kam bei einem Flugzeugabsturz um, und John tauchte, manchmal mit Kindern, manchmal allein, auf ihrer Schwelle auf. Entweder fiel sie ihm dann in die Arme, und sie vergossen gemeinsam zärtliche Tränen, oder sie tat so, als wäre ein Mann in ihrem Apartment, und knallte ihm die Tür vor der Nase zu.
    Von zwei Jahren Einzel- und Gruppentherapie hatte Pam enorm profitiert, doch in dieser Krise richtete die Therapie nichts aus; sie war der ungeheuren Kraft ihrer obsessiven Gedanken nicht gewachsen. Julius schlug sich tapfer. Er war unermüdlich und holte unzählige Instrumente aus seiner Werkzeugkiste. Zunächst bat er sie, sich selbst zu beobachten und die Zeit aufzuzeichnen, die sie mit ihrer Obsession verbrachte. Zwei- bis dreihundert Minuten pro Tag. Erstaunlich! Und die Besessenheit schien sich ihrer Kontrolle völlig zu entziehen; sie hatte dämonische Macht. Julius versuchte, ihr zu helfen, die Kontrolle zurückzuerlangen, indem er sie drängte, die Zeit, in der sie fantasierte, systematisch und allmählich zu mindern. Als das scheiterte, wählte er einen paradoxen Ansatz und instruierte sie, jeden Morgen eine Stunde ausschließlich ihren Lieblingsfantasien über John zu widmen. Obgleich sie Julius’ Anweisungen befolgte, verweigerte sich die ungebärdige Obsession jeder Beschränkung und floss ebenso stark in ihr sonstiges Denken ein wie zuvor. Später schlug er mehrere Techniken zum Ausbremsen ihrer Gedanken vor. Tage lang schrie ihnen Pam ein Nein entgegen oder ließ Gummibänder um ihre Handgelenke schnippen.
    Überdies versuchte Julius, ihre Besessenheit zu entschärfen,
indem er die ihr zu Grunde liegende Bedeutung offen legte. »Die Besessenheit ist eine Ablenkung; sie schützt Sie davor, an etwas anderes zu denken«, insistierte er. »Was verdeckt sie? Wenn die Obsession nicht wäre, an was würden Sie dann denken?« Doch die Besessenheit wich nicht.
    Die Gruppenmitglieder leisteten ihren Beitrag. Sie berichteten von eigenen obsessiven Episoden; sie meldeten sich freiwillig zum Telefondienst, damit Pam sie jederzeit anrufen konnte, wenn sie sich von ihren Fantasien überwältigt fühlte; sie drängten sie, ihr Leben zu bereichern, ihre Freunde zu besuchen, sich für jeden Tag etwas vorzunehmen, einen Mann zu suchen und sich, Herrgott noch mal, vögeln zu lassen! Tony brachte sie zum Lächeln, als er den Antrag stellte, diese Aufgabe zu übernehmen. Aber nichts funktionierte. Gegen die ungeheure Macht ihrer Besessenheit waren all diese therapeutischen Waffen so wirksam wie ein Luftgewehr gegen ein angreifendes Rhinozeros.
    Dann erfolgte die zufällige Begegnung mit Marjorie, der schwärmerischen Studentin und Vipassana-Anhängerin, die sie wegen eines Themenwechsels bei ihrer Dissertation zu Rate zog. Sie hatte das Interesse am Einfluss von Platons Bild von der Liebe auf das Werk von Djuna

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