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Die Schopenhauer-Kur

Die Schopenhauer-Kur

Titel: Die Schopenhauer-Kur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irvin D. Yalom
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Bücher, einem langen, anmutigen Hals und vorspringendem Adamsapfel auf den Plan. Obgleich man von Englisch-Dozenten erwartete, dass sie belesen waren, hatte sie nur allzu viele kennen gelernt, die sich nur selten aus dem Jahrhundert herauswagten, in dem sie bewandert waren, und denen neue Belletristik völlig fremd war. John dagegen las alles. Vor drei Jahren hatte sie seinen Antrag auf Verbeamtung auf der Basis seiner beiden beeindruckenden Bücher Schach: Die Ästhetik der Brutalität in zeitgenössischen Romanen und No Sir!: Die androgyne Heldin in der britischen Literatur des späten 19. Jahrhunderts unterstützt.
    Ihre Freundschaft keimte an all den bekannten romantischen akademischen Treffpunkten: in Komiteesitzungen von Fakultät und Fachbereich, bei Mittagessen des Fakultätsklubs, den allmonatlichen Lesungen des jeweiligen Gastdichters oder -romanciers im Norris Auditorium. Sie schlug Wurzeln und erblühte in gemeinsamen akademischen Unternehmungen, etwa einem gemeinsam erteilten Unterricht über die Großen der abendländischen Zivilisation im 19. Jahrhundert oder bei Gastvorlesungen in den Kursen des jeweils anderen. Und dann kam es zu dauerhaften Allianzen in den Grabenkriegen der Fakultät, bei Zankereien über Raum- und Gehaltsverteilung und in brutalen Handgemengen des Beförderungsausschusses. Über kurz oder lang vertraute Pam Johns Geschmack so sehr (und umgekehrt), dass sie sich kaum noch woanders nach Empfehlungen von Romanen und Gedichten umsahen, und im Email-Äther zwischen ihnen knisterte es von aussagestarken literarischen Passagen. Beide vermieden Zitate, die lediglich dekorativ
oder neunmalklug waren; sie gaben sich mit nichts weniger als dem Überragenden zufrieden – Schönheit plus Klugheit für die Ewigkeit. Beide hassten Fitzgerald und Hemingway, beide liebten Dickinson und Emerson. Je höher die Stapel der von beiden gelesenen Bücher wurden, desto harmonischer entwickelte sich ihre Beziehung. Sie wurden von denselben profunden Gedanken derselben Schriftsteller bewegt. Ihre gemeinsamen Höhenflüge wurden immer zahlreicher. Kurz gesagt, die beiden Englisch-Professoren waren ein Liebespaar.
    »Du steigst aus deiner Ehe aus und ich aus meiner.« Wer hatte das zuerst gesagt? Sie erinnerten sich beide nicht, aber irgendwann in ihrem zweiten Jahr des Unterrichtens im Team gelangten sie zu dieser höchst riskanten amourösen Vereinbarung. Pam war bereit, John dagegen, der zwei kleine Töchter hatte, brauchte selbstverständlich mehr Zeit. Pam war geduldig. Ihr Auserwählter, John, war Gott sei Dank ein anständiger Mann, der Zeit benötigte, um moralische Fragen wie die nach der Bedeutung des Ehegelübdes zu bewältigen. Und außerdem rang er mit dem Schuldgefühl, seine Kinder im Stich zu lassen und eine Ehefrau, deren einziges Vergehen Fadheit war, eine Frau, die sich durch ihre Pflichten von einer spritzigen Geliebten in ein langweiliges Muttertier verwandelt hatte. Immer wieder versicherte John Pam, er sei auf dem besten Wege, habe das Problem erfolgreich identifiziert und analysiert und brauche jetzt nur noch ein wenig Zeit, um genügend Entschlossenheit aufzubringen und den günstigsten Moment zum Handeln abzuwarten.
    Doch die Monate verstrichen, und der günstigste Moment kam nie. Pam argwöhnte, dass John, wie so viele unzufriedene Ehepartner, versuchte, dem Schuldgefühl über eine unwiderrufliche, unmoralische Tat und der damit verbundenen Belastung zu entkommen, indem er seiner Frau durch verschiedene Manöver die Entscheidung aufdrängte. Er zog sich zurück, zeigte kein sexuelles Interesse mehr an ihr und kritisierte sie
wortlos und gelegentlich auch lautstark. Es war der alte »Ich-schaffe-es-nicht-zu-gehen-aber-ich-bete-dass-sie-geht«-Winkelzug. Aber er funktionierte nicht – seine Frau biss nicht an.
    Schließlich handelte Pam ihrerseits. Auslöser dafür waren zwei Anrufe, die mit »Schätzchen, ich glaube, Sie sollten wissen . . .« begannen. Unter dem Vorwand, ihr einen Gefallen zu tun, machten zwei von Earls Patientinnen sie auf sexuelle Übergriffe seinerseits aufmerksam. Als eine Vorladung eintraf mit der Nachricht, dass Earl von einer weiteren Patientin des unprofessionellen Verhaltens beschuldigt wurde, dankte Pam ihrem Schutzengel dafür, dass sie keine Kinder hatte, und griff nach dem Telefon, um sich mit einem Scheidungsanwalt in Verbindung zu setzen.
    Würde ihr Vorgehen John zu einem Entschluss zwingen? Obgleich sie ihre Ehe auch dann beendet hätte, wenn

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