Die Schopenhauer-Kur
Blick in die Ferne gerichtet. »Der Körper nimmt sich den Schlaf, den er braucht.«
»Können Sie mir dann sagen«, versuchte es Pam erneut, »warum die ganze Nacht vor meinem Fenster schrill auf Polizeitrillerpfeifen gepfiffen wird?«
»Vergessen Sie solche Fragen. Konzentrieren Sie sich auf Ihr anapana-sati. Achten Sie einfach auf Ihren Atem. Wenn Sie sich richtig einbringen, werden derart triviale Vorkommnisse keine Störungen mehr sein.«
Pam langweilte die Atemmeditation so sehr, dass sie sich fragte, ob sie wohl zehn Tage würde aushalten können. Abgesehen vom Sitzen bestand die einzige Tätigkeit darin, Goenkas allabendlichen öden Ausführungen zu lauschen. Goenka, wie der Rest des Personals in strahlendes Weiß gewandet, bemühte sich um Eloquenz, was ihm aber oft misslang, weil ein unterschwellig schriller autoritärer Ton mitschwang. Seine Vorträge waren lange, ständig wiederholte Abhandlungen, in denen er die zahlreichen Vorzüge des Vipassana pries, das, korrekt praktiziert, in einer Reinigung des Geistes, einem Weg zur Erleuchtung, einem Leben in Ruhe und Ausgeglichenheit, einer Ausmerzung psychosomatischer Krankheiten und einer Ausschaltung der drei Gründe für jede Unzufriedenheit resultierte: Begierde, Abscheu und Unwissenheit. Regelmäßige Vipassana-Übungen seien wie regelmäßige geistige Gartenarbeit, bei der unreine Gedanken wie Unkräuter ausgezupft würden. Nicht nur das, hob Goenka hervor, Vipassana sei überall anzuwenden und biete sogar einen Wettbewerbsvorteil: Während andere die Wartezeit an Bushaltestellen vertrödelten, könne der praktizierende Buddhist fleißig ein paar Überbleibseln kognitiver Verunreinigung zu Leibe rücken.
Die Broschüren für den Vipassana-Kurs strotzten vor Regeln, die auf den ersten Blick verständlich und einsichtig schienen. Aber es gab so viele. Nicht stehlen, kein Lebewesen töten, nicht lügen, keine sexuellen Aktivitäten, keine Rauschmittel, keine sinnlichen Vergnügungen, kein Schreiben, keine Notizen machen, keine Kugelschreiber oder Bleistifte, keine Lektüre, keine Musik, keine Radios, kein Telefon, kein üppiges Bettzeug, kein Körperschmuck irgendwelcher Art, keine unangemessene Kleidung, kein Essen nach Mittag (nur für die Neuankömmlinge, denen um 17.00 Uhr Tee und Obst angeboten wurden).
Schließlich war es den Schülern verboten, die Autorität und Führung des Lehrers in Frage zu stellen; sie mussten sich einverstanden erklären, die Disziplin zu beachten und zu meditieren, wie ihnen befohlen wurde. Nur mit dieser gehorsamen Haltung, meinte Goenka, könnten die Schüler zur Erleuchtung gelangen.
Generell legte Pam das zu seinen Gunsten aus. Immerhin war er ein engagierter Mann, der sein Leben der Lehre des Vipassana gewidmet hatte. Natürlich war er seiner Kultur verhaftet. Wer war das nicht? Und hatte Indien nicht immer unter der Last seiner religiösen Rituale und der rigiden Einteilung in Kasten geächzt? Außerdem liebte Pam Goenkas herrliche Stimme. Jeden Abend war sie entzückt davon, wie er mit tiefer, sonorer Stimme in uraltem Pali heilige buddhistische Texte skandierte. Ähnlich bewegt hatten sie frühchristliche religiöse Musik, besonders byzantinische liturgische Gesänge sowie die Kantoren in Synagogen, und einmal hatte sie in der ländlichen Türkei gebannt den hypnotischen Melodien des Muezzin gelauscht, der die Gemeinde fünfmal täglich zum Gebet rief.
Obgleich Pam eine hingebungsvolle Schülerin war, fiel es ihr schwer, fünfzehn Minuten hintereinander einfach nur auf ihren Atem zu achten, ohne in einen ihrer Tagträume über John abzudriften, die sich aber allmählich veränderten. Die früher disparaten Bilder verschmolzen nach und nach zu einer einzigen Szene: Aus irgendeiner Nachrichtenquelle – Fernsehen, Radio oder Zeitung – erfuhr sie, dass John samt Familie bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war. Wieder und wieder kam ihr die Episode in den Sinn. Sie hatte sie satt. Doch sie spulte sich weiterhin vor ihrem geistigen Auge ab.
Während sie immer gelangweilter und rastloser wurde, entwickelte sie ein intensives Interesse an kleinen Haushaltsprojekten. Als sie sich bei ihrer Ankunft im Büro eingetragen und zu ihrer Überraschung erfahren hatte, dass der zehntägige Aufenthalt nichts kostete, waren ihr im Laden des Ashram kleine Tüten mit Waschmittel aufgefallen. Am dritten Tag erstand
sie eine Tüte und verbrachte von da an beträchtliche Zeit damit, ihre Kleidungsstücke zu waschen, sie
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