Die Schopenhauer-Kur
Barnes verloren. Stattdessen hatte sie sich in Larry, den Protagonisten von Somerset Maughams Auf Messers Schneide, verguckt und schlug jetzt als Thema »Die Herkunft von fernöstlich-religiösem Gedankengut bei Maugham und Hesse« vor. In ihren Gesprächen fiel Pam eine von Marjories (und Maughams) Lieblingswendungen auf, »die Beruhigung des Geistes«. Sie erschien ihr sehr verlockend, sehr verführerisch. Je mehr sie darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr, dass eine Beruhigung des Geistes genau das war, was sie brauchte. Und da weder Einzel- noch Gruppentherapie dieses bieten konnte, beschloss Pam, Marjories Rat zu folgen. Also buchte sie einen Flug nach Indien und zu Goenka, dem Epizentrum der Beruhigung des Geistes.
Der Tagesablauf im Ashram hatte ihren Geist tatsächlich
schon ein bisschen zur Ruhe gebracht. Ihre Gedanken waren weniger auf John fixiert, doch allmählich hatte Pam das Gefühl, dass ihre Schlaflosigkeit schlimmer war als die Obsession. Sie lag wach und lauschte den Geräuschen der Nacht: einer Hintergrundmusik aus rhythmischem Atmen und dem Libretto von Schnarchen, Stöhnen und Schnauben. Ungefähr jede Viertelstunde wurde sie von dem schrillen Klang einer Polizeitrillerpfeife vor ihrem Fenster aufgeschreckt.
Aber warum konnte sie nicht einschlafen? Es musste etwas mit dem zwölfstündigen Meditieren jeden Tag zu tun haben. Was sollte es sonst sein? Allerdings schienen die anderen einhundertfünfzig Schülerinnen behaglich in den Armen Morpheus’ zu ruhen. Wenn sie doch nur Vijay diese Fragen stellen könnte! Einmal, als sie im Meditationssaal verstohlen nach ihm Ausschau hielt, stupste Manil, der Aufseher, der die Gänge auf und ab lief, sie mit seinem Bambusstock an und bemerkte: »Nach innen schauen. Sonst nirgendwohin.« Und als sie Vijay tatsächlich ganz hinten im Männertrakt entdeckte, wirkte er entrückt, wie er da aufrecht im Lotussitz hockte, reglos wie ein Buddha. Sie musste ihm aufgefallen sein; von allen dreihundert war sie die Einzige, die nach westlicher Manier auf einem Stuhl saß. Es war ihr zwar äußerst peinlich gewesen, aber sie hatte vom tagelangen Auf-dem-Boden-Sitzen solche Rückenschmerzen bekommen, dass ihr nichts anderes übrig geblieben war, als von Manil, Goenkas Assistenten, einen Stuhl zu erbitten.
Manil, ein hochgewachsener, schlanker Inder, der sich sehr bemühte, gelassen zu erscheinen, war nicht erfreut über ihre Bitte. Ohne seinen Blick vom Horizont zu wenden, entgegnete er: »Ihr Rücken? Was haben Sie in Ihrem früheren Leben getan, um das auf sich zu ziehen?«
Was für eine Enttäuschung! Manils Antwort strafte Goenkas nachdrückliche Behauptung Lügen, seine Methode sei außerhalb jeder spezifischen religiösen Tradition angesiedelt. Allmählich wurde Pam die gähnende Kluft zwischen der nontheistischen Haltung eines selten gewordenen Buddhismus
und den abergläubischen Überzeugungen der Massen bewusst. Sogar Lehrassistenten überwanden ihre Lust auf Magie, Geheimnis und Autorität nicht.
Einmal sah sie Vijay beim Mittagessen um 11 Uhr und ergatterte einen Platz neben ihm. Sie hörte, wie er tief Luft holte, als ob er ihr Aroma einatmete, aber er schaute sie weder an, noch sprach er. Natürlich sprach niemand; die Regel des vornehmen Schweigens galt unangefochten.
Am dritten Morgen belebte eine bizarre Episode den Tagesablauf. Während der Meditation furzte jemand laut, und einige Schüler kicherten. Das Kichern war ansteckend, und schon bald waren etliche Schüler von einem Lachkrampf gepackt. Goenka war nicht belustigt und stolzierte unverzüglich, seine Frau im Schlepptau, aus dem Meditationssaal. Kurz darauf teilte einer der Assistenten den Anwesenden feierlich mit, ihr Lehrer sei entehrt worden und weigere sich, mit dem Kurs fortzufahren, ehe alle Anstoß erregenden Schüler den Ashram verlassen hätten. Ein paar Schüler gingen, doch in den nächsten Stunden wurde die Meditation durch die Gesichter der Exilierten gestört, die an den Fenstern erschienen und wie Teenager johlten.
Der Vorfall wurde nie wieder erwähnt, aber Pam vermutete, dass es eine spätnächtliche Säuberungsaktion gegeben hatte, denn am nächsten Morgen waren weitaus weniger sitzende Buddhas da.
Worte waren nur während der Mittagsstunde erlaubt, wenn Schüler sich mit spezifischen Fragen an die Assistenten des Lehrers wenden durften. Am vierten Tag stellte Pam Manil ihre Frage über die Schlaflosigkeit.
»Machen Sie sich deswegen keine Sorgen«, erwiderte er, den
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