Die Schopenhauer-Kur
der die Luft eindringt und ausströmt.«
»Bald«, sagte Goenka, »wird der Atem immer dünner werden, bis er vollkommen zu verschwinden scheint, aber je tiefer ihr euch konzentriert, desto besser werdet ihr seine Subtilität und Zartheit wahrnehmen. Wenn ihr all meine Instruktionen genau befolgt«, sagte er, zum Himmel zeigend, »wenn ihr hingebungsvolle Schüler seid, wird die Praxis des anapana-sati euren Geist zur Ruhe bringen. Dann seid ihr befreit von allem, was euch an völliger Bewusstheit hindert: von Rastlosigkeit, Ärger, Zweifel, sinnlichem Verlangen und Schläfrigkeit. Ihr werdet euch in einem wachen, ruhigen und freudigen Zustand befinden.«
Die Beruhigung ihres Geistes war in der Tat Pams Gral – der Grund für ihre Pilgerfahrt nach Igatpuri. In den letzten Wochen war ihr Gemüt ein Schlachtfeld gewesen, von dem sie lautstarke, obsessive, aufdringliche Erinnerungen an und Fantasien über ihren Ehemann Earl und ihren Geliebten John zu vertreiben versucht hatte. Earl war vor sieben Jahren ihr Gynäkologe gewesen, als sie schwanger geworden war und sich für eine Abtreibung entschieden hatte, ohne den Vater zu informieren, einen gelegentlichen sexuellen Spielgefährten, mit dem sie keine tiefere Verbindung anstrebte. Earl erwies sich als ungewöhnlich sanft und fürsorglich. Geschickt führte er den Eingriff durch und betrieb dann eine unübliche postoperative Nachsorge, indem er sie zweimal zu Hause anrief, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Alle Berichte über den Niedergang einer humanen medizinischen Betreuung sind mit Sicherheit übertrieben, dachte sie. Dann, ein paar Tage später, kam ein dritter Anruf, der eine Einladung zum Mittagessen beinhaltete, während dessen Earl geschickt den Übergang von der Rolle des Arztes zu der des Verehrers bewerkstelligte. Beim vierten Anruf willigte sie nicht ohne Begeisterung ein, ihn auf einen Ärztekongress nach New Orleans zu begleiten.
Sein Werben um sie schritt erstaunlich rasch voran. Kein Mann hatte sie je so gut gekannt, tröstete sie so erfolgreich, war so außerordentlich vertraut mit all ihren Ecken und Kanten oder bereitete ihr größeres sexuelles Vergnügen. Zwar besaß er wirklich viele wunderbare Eigenschaften – er war tüchtig, attraktiv und hatte ein gewandtes Auftreten –, aber sie stattete ihn (wie ihr später klar wurde) mit heroischen, übermenschlichen Zügen aus. Geblendet davon, die Auserwählte zu sein, an das Kopfende der Schlange von Frauen vorgerückt zu sein, die seine Praxis bevölkerten und lautstark nach seiner heilenden Hand verlangten, verliebte sie sich Hals über Kopf und willigte wenige Wochen später in eine Hochzeit ein.
Zunächst war das Eheleben idyllisch. Aber irgendwann im zweiten Jahr trat die Realität, mit einem siebenundzwanzig Jahre älteren Mann verheiratet zu sein, offen zu Tage: Er brauchte mehr Ruhe; seinem Körper waren die fünfundfünfzig anzumerken; weiße Haare zeigten sich trotz des speziell für ihn hergestellten Haarfärbemittels. Earls Rollmuskelverletzung am Handgelenk setzte ihren gemeinsamen Tennis-Sonntagen ein Ende, und als ihm nach einem Meniskusriss das Skilaufen nicht mehr möglich war, bot er sein Haus in Tahoe zum Verkauf an, ohne mit Pam darüber gesprochen zu haben. Sheila, ihre gute Freundin und Mitbewohnerin aus College-Zeiten, die ihr abgeraten hatte, einen älteren Mann zu heiraten, drängte sie, sich ihre eigene Identität zu bewahren und sich mit dem Altwerden nicht zu beeilen. Pam fühlte sich wie im Schnellvorlauf. Earls Alter nährte sich von ihrer Jugend. Jeden Abend kam er mit kaum mehr Energie nach Hause, als seine drei Martinis zu trinken und ein Weilchen vorm Fernseher zu sitzen.
Und das Schlimmste war, dass er nie las. Wie gewandt, wie selbstsicher er sich früher über Literatur unterhalten hatte! Wie sehr sie seine Liebe zu Middlemarch und Daniel Deronda für ihn eingenommen hatte! Und was für ein Schock, nur kurze Zeit später zu erkennen, dass sie Form mit Substanz verwechselt hatte: Nicht nur waren Earls literarische Betrachtungen
auswendig gelernt, sondern sein Repertoire an Büchern erwies sich als begrenzt und statisch. Das war der härteste Schlag: Wie hatte sie sich je in einen Mann verlieben können, der nicht las? Sie, deren teuerste und beste Freunde auf den Seiten von George Eliot, Woolf, Murdoch, Gaskell und Byatt beheimatet waren?
Und da trat John, ein rothaariger Assistenzprofessor in ihrem Fachbereich in Berkeley mit einem Arm voller
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