Die schottische Braut
Bride
. Seit dem unheilvollen Sturm zu Beginn ihrer Reise hatte sich das Wetter auf See ungewöhnlich mild gestaltet. Es wehte ein leichter Wind, und auf den sanften Wellen schaukelte die Bark wie eine Wiege hin und her. Tag für Tag brannte die Sonne vom blauen Himmel herab, an dem nur wenige weiße Wölkchen vorüberzogen. Der Kapitän der
St. Bride
nannte das einen “Schäfchenhimmel”.
“Mit einer leichteren Lektüre hätten Sie wahrscheinlich noch rascher gelernt.” Harris lehnte sich zurück. Er warf einen entschuldigenden Blick auf das dicke Buch “Ivanhoe”, das aufgeschlagen auf Jennys Schoß lag. “Ich fürchte, außer der Bibel waren die Bücher von Mr Scott die einzigen, die ich mir leisten konnte mitzunehmen.”
“Ärgern Sie sich nicht.” Jenny spürte, wie ihre Zuversicht zurückkehrte. “Ich kenne die Bibel bereits sehr gut. Ich mag diese Geschichten. Ich lese lieber ein Buch, dessen Inhalt interessant und schwer zu verstehen ist, als eines, dessen Inhalt langweilig und leicht zu verstehen ist.”
Harris nickte. “Mir geht es genauso.”
Sie waren vor einigen Tagen mit “Rob Roy” fertig geworden. Zuerst kämpfte sich Jenny durch die ersten Seiten jedes Kapitels, dann belohnte Harris ihre Bemühungen damit, den Schluss laut vorzulesen. Zwischen den Kapiteln sprachen sie über die Geschichte und die Personen. Harris erklärte ihr den historischen Hintergrund.
Die unglaublichen Abenteuer und die Heldenromantik der Geschichten beeindruckten Jenny tief. In ihren nächtlichen Träumen tauchten die Figuren auf, doch die Helden ähnelten alle Harris.
Jeden Morgen beeilte sich Jenny mit dem Ankleiden und nahm rasch das Frühstück zu sich, denn sie war begierig, das nächste Kapitel in Angriff zu nehmen. Dank Sir Walter Scott und Harris Chisholm taten sich in ihrem Denken völlig neue Betrachtungsweisen und Erfahrungen auf. Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie sich so lebensfroh gefühlt.
“Hallo!” erklang eine Stimme über ihr. “Macht der Unterricht Fortschritte, Miss Lennox?”
Jenny winkte Thomas Nicholson, dem Schiffsjungen, zu, der behände die Webeleine am Kreuzmast löste.
“Oh Thomas”, rief sie ihm zu. “Zwar geht es nicht schnell, aber es wird schon.”
“Hör nicht auf sie, Thomas”, warf Harris dazwischen. “Miss Lennox hat einen Verstand, der ihrer Schönheit gleicht. Ich könnte in sechs Monaten einen Notarius aus ihr machen.”
Mit einem fröhlichen Gruß kehrte der Junge an seine Arbeit zurück. Kapitän Glendenning sorgte dafür, dass die Männer den ganzen Tag ständig die Segel justierten, um selbst den schwächsten und wechselhaftesten Wind einzufangen. Nachdem sich das schlechte Wetter zu Beginn der Reise gebessert hatte, hatte sich auch die Stimmung der Mannschaft auf der
St. Bride
gehoben.
Der Kapitän war ein unerbittlicher Pedant und führte eine strenge Hand bei Drückebergern und Aufwieglern. Jeder Seemann, der es versäumte, sein Soll zu erfüllen, sah sich ganz schnell dazu verbannt, unter der brütenden Sonne das Deck mit Salzwasser und Scheuerstein zu schrubben. Fleißige Seeleute hatten es gut auf der
St. Bride
. Sie bekamen besseres Essen als die übliche Schiffskost aus Zwieback und Pökelfleisch, und der Kapitän war großzügig beim Verteilen der täglichen Ration Rum.
Als man erfuhr, dass Jenny in dem großen, bedrohlich wirkenden Harris Chisholm einen Beschützer hatte, war die Mannschaft sehr schnell dazu übergegangen, sie mit aufrichtigem Respekt zu behandeln. Hilfreich war auch der Umstand, als man den Grund ihrer Reise erfuhr. Sie sollte am Zielort einen reichen Schiffsbauer ehelichen. Jeder Seemann, der in Miramichi das Schiff wechseln wollte oder dort Arbeit suchte, hoffte auf eine gute Empfehlung durch Miss Lennox.
Harris suchte im Text des Romans nach noch ausgefalleneren Wörtern, die für Jenny eine Herausforderung bedeuten könnten.
“Verstand, der meiner Schönheit gleicht?”, fragte sie spöttisch.
Obwohl Harris fortgesetzt in das Buch blickte, errötete er. “Sollte ich nicht auch meine Lektionen üben?”, fragte er leise.
“Lektionen? Ach, Ihr Unterricht in Charme.” Es lag ihr auf der Zungenspitze, Harris zu sagen, dass er bereits zu charmant war, mehr als ihm – oder ihr – guttat. Stattdessen sagte sie streng: “Die wichtigste Lektion, die ich Ihnen über Komplimente beibringen kann, ist, nicht zu übertreiben.”
“‘Lange und glücklich lebte er mit Rowen’”, las Jenny über Wilfred of Ivanhoe,
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