Die schottische Braut
eines Liedes?”
“Ja. Kirstie meinte, es sei nicht sehr romantisch von Lizzie, ihren Verehrer nach seinem Stand zu fragen. Sie war der Ansicht, das Mädchen hätte Lord Ranald nehmen sollen, ehe sie herausfand, wer er war.”
“Sie pflichten ihr nicht bei?”
Jenny gab einen spöttischen Laut von sich. “Ich würde sagen, dass Lizzie Lindsay ein kluges Mädchen war. Es ist leichter, einen reichen Mann zu lieben als einen armen. Es scheint leichter zu sein, ihn auch noch zu lieben, wenn die Brautwerbung und die Vermählung vorbei sind.”
“Vernehme ich hier die Stimme der Erfahrung?”, fragte Harris leise. Er hatte das Gefühl, als spräche Jenny mehr zu sich selbst als zu ihm.
“So ist es”, stieß sie bitter hervor. “Jede Romantik stirbt, wenn man sich von morgens bis abends zu Tode abrackert. Sich sorgen muss, wo man das Geld hernehmen will, um den Doktor zu bezahlen. Romantische Träume sind gut und schön, doch Wirklichkeit werden sie nur, wenn das Leben nicht von Armut und Entbehrung bestimmt wird.”
“Lieben Sie diesen Roderick Douglas wirklich? Sie wollen ihn nicht nur seines Geldes wegen heiraten?”
“Zum ersten Mal fiel er mir auf dem Kirchhof auf”, erzählte Jenny. “Er sah so gut aus mit seinen dunklen Haaren und dunklen Augen. Und er hatte eine feine, selbstbewusste Art zu sprechen und sich zu bewegen. Ich hörte, wie er seine Ansichten anderen mitteilte. Ihm war klar, er musste in die Welt hinausziehen, um große Dinge zu vollbringen. Ihn zu ehelichen bedeutet, dass ein Traum meines Lebens wahr wird.”
Damit hatte sie seine Frage zwar nicht beantwortet, dennoch vernahm Harris, wie Jenny die Vorzüge ihres künftigen Gemahls aufzählte. Schmerzlich wurde ihm bewusst, dass er sich niemals an ihrem Ideal messen konnte.
“Sie sollten zusehen, dass Sie etwas Schlaf bekommen.” Er wollte es nicht, doch seine Worte klangen schroff.
“Ja”, erwiderte sie und seufzte. Ihre Antwort schwebte im Wind wie ein Seufzer. Jenny wandte sich von der Reling ab und ging zur Kajütentreppe. Verdrossen folgte Harris ihr, aber hartnäckig wie ein Schatten.
An der Kabinentür wandte sie sich zu ihm um. “Wir werden morgen damit beginnen ‘Waverley’ zu lesen. Gute Nacht, Harris. Es war ein schöner Abend.”
Ehe er sich abwenden konnte, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und drückte ihm ungestüm einen Kuss auf die Wange. Sie erreichte ihn nicht ganz und strich dabei über die Narben an seinem Kinn. Bevor Harris etwas sagen konnte, verschwand Jenny in ihrer Kabine und schloss die Tür.
4. KAPITEL
“Wo sind wir jetzt?” Jenny blickte an Harris vorbei zu einem weit entfernten Punkt am Horizont.
Nach sechs Wochen auf See fühlte sie sich, als hätte sie schon immer auf einem Schiff gelebt. Unwillkürlich glich sie ihren Gang den Bewegungen des Schiffes an. Für lange Zeit war in der unendlichen Weite des Ozeans nicht erkennbar, dass sie sich ihrem Ziel näherten. Gewiss, Kapitän Glendenning hatte sein Chronometer und Tabellen zur Bestimmung des Kurses. Doch für Jenny hätten sie ebenso gut im Kreis segeln können.
Dann plötzlich war es da. Land. Es lockte Jenny mit den Versprechungen für ein neues Leben.
“Sie haben mir diese Frage seit gestern, als wir an dem Nantucket-Walfänger vorbei sind, recht oft gestellt”, erwiderte Harris mürrisch, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. “Wir sind eine Stunde näher als beim letzten Mal, als Sie fragten.”
Unerwartet zog er sich von der Reling zurück und ging ohne ein weiteres Wort davon. Jenny, die sich an ihn gelehnt hatte, taumelte und stieß sich dabei am Schienbein.
Was ist jetzt in ihn gefahren?, fragte sie sich verärgert und rieb sich das schmerzende Bein. “Viel Gutes ist nicht dabei herausgekommen, ihm Manieren beizubringen.”
In den vergangenen vierundzwanzig Stunden war Harris Chisholm zu seiner früheren mürrischen Art zurückgekehrt. Brüsk, unzugänglich … manchmal so schroff, dass Jenny froh gewesen wäre,
diesen
Harris Chisholm in Schottland gelassen zu haben. Harris, der geduldige Lehrer. Harris, der fesselnde Geschichtenerzähler. Harris, der mitreißende Gefährte. Wo war er geblieben?
“Wir sind vor der Küste von Nova Scotia, Miss Lennox.” Der Kapitän der
St. Bride
war neben Jenny aufgetaucht. Er zeigte nach Westen zu einer leichten Einbuchtung an dem unregelmäßigen Landstrich. “Wir sind auf dem Weg zu einem kleinen Kanal, der das Festland und die Insel am Cape Breton durchzieht. Wir
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