Die schottische Braut
jetzt gehen und Sie schlafen lassen.”
Sie ergriff seine Hand. “Bleiben Sie. Ihre Geschichte bringt mich auf andere Gedanken. Es muss erhebend sein, Bücher wie dieses zu lesen.”
“Ich wäre glücklich, Ihnen alle zu leihen, die ich habe”, bot Harris an. “Ich vermute, Sie hatten nicht viel Geld für Bücher.”
Jenny sank zurück auf das Kissen und gab ein bitteres Lachen von sich. “Kein Geld. Keine Zeit. Keinen Unterricht.” Sie seufzte. “Ich fürchte, ich werde eine rechte Enttäuschung für Roderick Douglas sein – eine einfältige Bauerntochter, die weder lesen noch ihren eigenen Namen schreiben kann.” Ihre Worte gingen in stilles Schluchzen über.
Das liegt an dem Whisky, stellte Harris fest. Oftmals hatte er diese unglückliche Nebenwirkung, Menschen zur Rührseligkeit zu bringen.
“Aber, aber.” Er wischte ihr mit dem Taschentuch die Tränen von den Wangen. “Nicht doch. Sie werden sich nur aufregen und letztendlich wieder Magenbeschwerden haben. Er wäre ein Tor, würde er sich über eine hübsche Braut wie Sie beklagen.”
“Was tun Sie überhaupt hier, Harris Chisholm?” Sie schob seine Hand beiseite. “Ich weiß, Sie halten mich für dumm und gewöhnlich. Gehen Sie jetzt. Ich brauche weder Ihre Medizin noch Ihre Geschichten und schon gar nicht Ihr Mitleid.”
Harris sah, wie sie sich in der engen Koje bewegte und ihm den Rücken zudrehte. Er löschte das Licht. Unschlüssig blieb er sitzen. Hübsche Frauen hatte er immer als herzlose, unzugängliche Wesen betrachtet. Bisher war es ihm nie in den Sinn gekommen, dass sie vielleicht verletzbar oder von den gleichen Zweifeln geplagt wurden wie er. Womöglich hatte er ihnen mit seinem rauen Betragen, das nur ein armseliger Schutzwall gewesen war, wehgetan.
Hätte die Laterne noch gebrannt und wäre Jenny nicht krank und kurz vor dem Einschlafen gewesen, hätte Harris wohl geschwiegen. So aber sagte er: “Sie irren sich. Ich halte Sie keineswegs für dumm und gewöhnlich. Falls ich mich Ihnen gegenüber hochmütig gezeigt haben sollte, so bitte ich Sie um Vergebung.” Er machte eine kleine Pause, ehe er mutig hinzufügte: “Ich weiß sehr wohl, dass kein hübsches Mädchen etwas mit mir zu tun haben möchte. Nur aus Stolz tue ich so, als wäre mir das gleichgültig.”
Sie drehte sich auf ihrer Koje zu ihm um. In der Dunkelheit vermochte sie nur die Umrisse seines Gesichtes zu erkennen. “Es ist schon gut”, sagte sie.
“Wir haben ungefähr fünf oder gar sechs Wochen auf See vor uns …”
Jenny stöhnte schon bei dem bloßen Gedanken.
“Es wird nicht immer so schlimm sein wie jetzt”, fuhr Harris fort. “Wenn wir erst dieses Unwetter hinter uns haben und Sie wieder gesund sind, könnte ich Ihnen beibringen zu lesen, wenn Sie es lernen wollen.”
Die Decke raschelte erneut, als Jenny sich aufrichtete. “Das möchte ich sehr gern. Es ist etwas, das ich mir schon lange gewünscht habe. Ich habe stets meine Brüder beneidet, wenn sie zur Schule gingen. Da ich das einzige Mädchen war, konnte mich meine Mutter nicht entbehren. Einmal hatte ich Ian gebeten, mir etwas beizubringen, doch wir machten keine großen Fortschritte. Ich war abends meistens völlig erschöpft, sodass ich über den Büchern einschlief, ehe ich irgendetwas lernen konnte.”
Harris, an eine derartige Offenheit nicht gewöhnt, fragte sich, ob sie sich bewusst war, dass er noch immer zuhörte.
Offenbar hatte sie ihn nicht vergessen, denn plötzlich erkundigte sie sich: “Warum wollen Sie diese ganzen Mühen auf sich nehmen?”
“Wir gute Geister legen großen Wert darauf, unsere Arbeit sorgfältig zu verrichten”, meinte Harris und lachte vor sich hin. “Es ist eine Frage der Berufsehre, müssen Sie wissen. Haben Sie noch andere Wünsche, die ich Ihnen erfüllen kann, solange ich hier bin? Stroh zu Gold spinnen vielleicht?”
“Wenn es Ihnen gelingt, mir das Lesen beizubringen und mich sicher zur Vermählung mit Roderick Douglas zu geleiten, haben Sie den glücklichsten Menschen der Welt aus mir gemacht. Ich hoffe nur, Sie haben nicht die Absicht, mein erstgeborenes Kind als Belohnung dafür zu verlangen.”
“Würde Ihnen denn das so schwer fallen?”, fragte Harris scherzhaft. “Ich erinnere mich an Ihr Versprechen, mir alles zu gewähren, was in Ihrer Macht steht, dabei war nicht von der Ausnahme Ihres Erstgeborenen die Rede. Ich kann unseren Kontrakt berichtigen, doch das bedeutet, dass ich eine zusätzliche Buße verlange.”
Jenny
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