Die schottische Braut
“‘denn sie waren sich mit der reinsten Liebe zugetan, und die Erinnerung an die Hindernisse, mit denen sie zu kämpfen hatten, erhöhte noch ihre Neigung.’”
Die Abenddämmerung brach rasch herein, und Jenny wollte die Lektüre beenden, ehe sie zu Bett ging. Harris hatte versprochen, sie würden morgen mit “Waverley” beginnen.
“‘Allein es wäre Unrecht, wenn man streng untersuchen wollte, ob nicht Rebeccas Schönheit und Hoch … Hoch …’”
“‘Hochherzigkeit’.”
“‘Hoch…herzigkeit’”, wiederholte Jenny, “‘öfter vor des Ritters Seele trat, als der schöne Sprössling Alfreds es gebilligt haben würde.’”
Sie las den letzten Absatz, ohne dass ihr Harris nochmals vorsagen musste. Dann schloss Jenny das Buch mit einem gewissen Triumphgefühl.
“Das war eine schöne Geschichte”, sagte Jenny. “Doch Ivanhoe hätte Rebecca heiraten sollen.”
Harris warf ihr von der Seite einen nachdenklichen Blick zu.
“Das hätte er tun sollen”, beharrte sie. “Es war mehr zwischen Sir Wilfred und Rebecca. Erinnern Sie sich nicht, wie sie ihn nach Ashby pflegte und wie er gegen den Templer kämpfte, um sie vor dem Scheiterhaufen zu retten?”
Fröhliches Lachen und Musik klangen vom Vorderdeck herüber. Die Mannschaft, die Freiwache hatte, versammelte sich an den Abenden, um Geschichten zu erzählen, zu singen und ihren Rum zu trinken.
Harris wies mit dem Kinn zum Bug. “Haben Sie Lust, der Mannschaft Gesellschaft zu leisten?”
Aufgeregt darüber, dass sie bereits das zweite Buch beendet hatte, nahm Jenny die Einladung gern an. Sie schlenderte mit Harris zum Vordeck und gesellte sich zu den Männern. Die Seeleute saßen oder standen im Kreis, einige lehnten müßig an der Reling, andere wiederum hatten ihren Platz in der Takelage gesucht.
Die Luft war von ausgelassenem Lachen und Klängen der Musik erfüllt. Schwielige Hände klatschten aneinander. Mit nackten Füßen trommelten sie auf den Deckplanken, und mit Holzlöffeln wurde der Takt auf den bauchigen Fässern geschlagen. Inmitten der tiefen Männerstimmen erscholl der fröhliche Ton einer Zinnpfeife. Jenny erkannte die Melodie, doch sie erinnerte sich nicht der Worte, die von der Schönheit der Frauen in den verschiedenen Häfen erzählten. Bald klatschte auch sie im Takt zur Musik mit. Der Gesang endete in einem lauten, jubelnden Geschrei.
“Chisholm! Miss Lennox! Kommen Sie, gesellen Sie sich zu uns”, rief der beleibte Bootsmann. Er schnippte kurz mit den Fingern. Schon sprang ein junger Seemann auf und machte den Platz für Jenny frei. “Wir werden Rücksicht auf Ihre Anwesenheit nehmen und uns gesittet benehmen, Miss”, versicherte er ihr.
“Beachtet mich gar nicht.” Sie wischte mit einer Handbewegung jede Besorgnis hinsichtlich guter Manieren hinweg. “Ich hatte sieben Brüder, ich bin an den Ton gewöhnt, in dem Männer miteinander reden.”
Als ob Jennys Antwort ein Stichwort für ihn war, setzte Tom Nicholson die Zinnpfeife wieder an die Lippen und begann, eine neue mitreißende Melodie zu trällern. Es war eines der vielen irischen Kampflieder, und seine Kameraden stimmten fröhlich mit ein. Viele ähnliche Weisen folgten. Dann verlangte plötzlich jemand Tanzmusik. Der Schiffsjunge gehorchte und pfiff eine flotte Melodie. Zwei junge Burschen wurden in die Mitte des Kreises gestoßen, und nach einem unbeholfenen Anfang bewegten sie sich bald ausgelassen im Rhythmus.
Einer der Tanzenden griff nach Jenny und fasste sie an der Hand. Er zog sie hoch und wirbelte sie überschwänglich im Takt zur Melodie auf dem Deck herum. Sie hatte erst einmal zuvor getanzt – einige zögernde Schritte auf der Hochzeit eines Vetters. Doch jetzt war es ganz anders. Ihre Füße bewegten sich wie von selbst ungestüm und leicht über das sanft schwankende Deck. Der Seemann ließ sie in andere Arme wirbeln.
Jennys Wangen röteten sich, Locken lösten sich aus der mit Haarnadeln sorgfältig zusammengesteckten Frisur und wippten auf und ab. Sie lachte übermütig. Und die Mannschaft jubelte ihrer Darbietung lautstark pfeifend und klatschend zu.
Atemlos stolperte sie gegen ihren Reisegefährten.
“Roderick Douglas wird sich nicht darum kümmern, wie gut Sie lesen, wenn Sie so tanzen können, Jenny.” Harris flüsterte ihr dies voller Wärme und Verehrung ins Ohr.
Eine innere Stimme riet Jenny, sie solle sich aus seinen Armen lösen und Harris Chisholm eine scharfe Rüge erteilen, dass er sie so vertraulich umfangen
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