Die schottische Braut
um sich und bemerkte, dass der Morgen heranbrach. Es nieselte nur noch, und der Wind hatte sich gelegt. Obwohl noch immer Dämmerung herrschte, konnte Harris die Küstenlinie ausmachen, die nicht mehr als hundert Yards entfernt lag. Dann sah er das Boot – ein langes Kanu, das von der Küste heranglitt.
Er sammelte seine letzten Kräfte. Mit dem gesunden Arm hielt er Jenny und hob den verletzten hoch.
“Hierher! Hilfe!” rief er mit so schwacher, rauer Stimme, dass er sie selbst nicht erkannte.
Jemand rief vom Boot aus etwas, doch Harris verstand es nicht. Überzeugt, dass man sie gesehen hatte, ließ er den Arm sinken.
Als das Kanu näher kam, konnte Harris darin zwei wild aussehende Männer, die heftig paddelten, ausmachen.
“Der Herr sei gepriesen”, rief einer von ihnen. “Das müssen die Leute sein, die von Bord des Schiffes gespült wurden.”
Trotz seines schwindenden Bewusstseins fragte sich Harris, wie sie ihn und Jenny an Bord nehmen wollten, ohne das leichte Gefährt zum Kentern zu bringen. Die Männer jedoch schienen Meister dieses seltsamen Fahrzeuges zu sein, denn in kurzer Zeit hatten sie es geschafft.
“Legen Sie sich zu Ihrer Frau, und halten Sie sie fest”, forderte ihn der ältere der beiden Männer auf.
Harris war zu erschöpft, um zu erklären, dass Jenny nicht seine Frau sei, und befolgte die Anweisung. Die Bootsmänner zogen ihre Mäntel aus und legten sie über das kraftlose Paar. Dann nahmen sie wieder die Ruder auf und strebten mit kräftigen Schlägen eiligst der Küste zu.
Nur einmal sprachen sie.
Das Boot war gut vorwärts gekommen, als Harris hörte, wie einer der Männer fragte: “Glaubst du, sie schaffen es?”
Sie hatten wohl gedacht, dass auch er nicht bei Bewusstsein wäre, doch in Wahrheit verlor Harris es erst jetzt.
Das Letzte, was er hörte, war die nüchterne Antwort: “Er, vielleicht.”
7. KAPITEL
Das Letzte, woran sich Jenny erinnerte, war Harris’ Kuss. Oder hatte sie dies nur geträumt? Sie spürte ihn auch noch, als sie endlich das Bewusstsein wiedererlangte.
Sie erwachte nur langsam. Ihr war, als stieg sie aus einem tiefen Abgrund empor. Undeutlich nahm Jenny wahr, dass sie sich nicht mehr im Wasser befand. Sie lag eingesponnen wie in einen Kokon da, und alles um sie herum war weich und warm. Die Luft, die sie einatmete, roch nach Schafen und frisch gemähtem Heu. Gedämpft hörte sie Geräusche – das Sprudeln von Wasser, Kühe, die in der Ferne weideten, Tongeschirr, das klirrte, und Stimmen, die hell oder dunkel klangen.
Jenny wusste nicht, wie lange sie schon hier lag. Aber das war auch nicht so wichtig. Wichtiger war, wo Harris war und wie es ihm ging. Sie fühlte sich noch zu benommen, um die Augen zu öffnen.
Und jetzt erinnerte Jenny sich wieder, dass Harris sie die ganze Nacht gehalten und wie ein Schutzengel zwischen ihr und dem Tod gestanden hatte. Lange, nachdem sie sich schon aufgegeben hatte, hatte er um sie gekämpft. Nun war er nicht mehr hier, und das schmerzte Jenny.
Ihre Lider waren schwer wie Blei, doch es gelang ihr endlich, sie zu öffnen. Zuerst musste sie die Augen im hellen Tageslicht zusammenkneifen, doch nach und nach gewöhnte sie sich daran, und sie konnte ihre Umgebung wahrnehmen. Sie lag auf einem Strohsack, der in einem aus rohem Holz gezimmerten Bau lag. Eingehüllt zwischen Decken aus grob zusammengenähten Schaffellen, lag sie da.
Leises Kichern lenkte ihre Aufmerksamkeit zum Eingang der Hütte. Ein Kind spähte durch die Tür herein und verschwand rasch wieder, als sich ihre Blicke begegneten.
“Warte!”, rief Jenny heiser. “Ich bin wach.”
Zuerst hörte sie nur ein Geräusch, dann tauchte der Blondschopf wieder auf.
Jenny lächelte aufmunternd. Nachdem sie nicht die Kraft hatte aufzustehen, konnte sie nur von dem Kind etwas über Harris erfahren. “Du kannst hereinkommen”, rief sie sanft. “Ich beiße nicht.”
Das Kichern ging erneut los, und bald erschien ein kleines Mädchen. Mit großen Augen trat es vorsichtig näher an Jenny heran. “Bist du die Frau, die ertrunken ist?”
Über diese unerwartete Frage musste Jenny so heftig lachen, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. “Ja”, antwortete sie. “Beinahe wäre mir das passiert. Ich erinnere mich nur noch, dass ich im Wasser war. Wie ich hierher kam oder wo ich bin, weiß ich nicht. Kannst du es mir sagen?”
Das Kind, dem ein Vorderzahn fehlte, nickte eifrig. Seine bloßen Füße, das Gesicht und die dünnen Ärmchen waren von
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