Die schottische Braut
an diesem Ort.
“Kannst du dir das vorstellen, Jenny? Wenn ein altes Weib mit dem zweiten Gesicht uns vor der Kirche angesprochen und prophezeit hätte, dass wir so enden würden, wären wir ärgerlich davonstolziert und hätten uns heiser gelacht.”
“Du wärst davonstolziert. Ich hätte gelacht.”
Ihre geistreiche Bemerkung ließ Harris lauter lachen. Es klang so unwiderstehlich, dass Jenny mit einstimmte. Für kurze Zeit ließen die neu gewonnene Vertrautheit und die gegenseitigen Berührungen die Kälte, den Wind und die Dunkelheit vergessen.
Doch bald bedrückte die kalte, schwarze Leere Jenny noch mehr, als die süßen Augenblicke zuvor sie getröstet hatten. Sie begann erneut zu zittern, und tiefe Müdigkeit drohte sie zu überwältigen.
“Ich kann nicht mehr länger, Harris.”
“Du darfst nicht aufgeben, Jenny. Denk an Mr Douglas und deine Hochzeit.”
Es war das zweite Mal, dass er sie drängte, an Roderick zu denken, und dies ärgerte Jenny. Sie wusste nur zu gut, dass sie sich in Gedanken mit ihrem künftigen Gemahl und dem Leben, das sie in Miramichi erwartete, befassen sollte – wenn sie doch nur bis zum Tagesanbruch durchhalten könnte. Wenn das nicht ihr größter Ansporn zu leben war, was sollte es dann sein?
Obwohl sie ernsthaft versuchte, sich mit der Hochzeit zu beschäftigen, tauchte vor ihrem geistigen Auge immer wieder Harris Chisholm auf. Alles, was sie in den letzten sechs Wochen über ihn herausgefunden hatte, machte Jenny bewusst, dass ihr Tod ihn bis an sein Lebensende verfolgen würde. Unverdient würden ihn Verantwortung und Schuld verzehren.
“Ja”, meinte sie benommen, “ich werde mein Bestes tun, um durchzuhalten, Harris. Für dich.”
Sie kämpfte gegen die Mattigkeit, die von Augenblick zu Augenblick stärker wurde. Harris hielt Jenny fest in den Armen. Vergeblich bemühte er sich, dem Nachlassen ihres Lebenswillens Einhalt zu gebieten, indem er ihren Rücken und die Arme mit noch mehr Nachdruck rieb. Während dieser Zeit waren es zwei kurze, geflüsterte Worte, die Kräfte in ihm freisetzten und ihn in seinem verzweifelten Bemühen, sie zu retten, unterstützten.
“
Für dich.”
Es war nicht der Traum vom gut aussehenden, reichen, mächtigen Roderick Douglas, der Jenny bewegte, gegen ihren schwindenden Lebenswillen anzukämpfen. Es waren ihre Gefühle für ihn. Entstellt, arm und bedeutungslos, hatte er die Macht, sie dem Gesang der Sirenen zu entreißen.
“Für mich, Jenny. So ist es recht. Bleib bei mir. Ich darf dich nicht verlieren, Jenny. Nicht jetzt. Ich habe mein ganzes Leben lang auf dich gewartet, obwohl ich es nicht wusste. Bleib bei mir, Mädchen. Jenny? Jenny!”
Der Griff des Todes war zu stark. Harris konnte beinahe fühlen, wie das Leben aus ihr wich. Wie in einem gigantischen Mahlstrom wurde sie hinabgezogen in die Tiefe der Unendlichkeit. Nein, sie durfte nicht sterben. Erschöpft hob er Jenny hoch.
Und er küsste sie.
Nicht in der Art und Weise, wie er sie in seiner Kajüte auf der
St. Bride
geküsst hatte. Damals hatte er ihr einen Kuss
gestohlen
. Hatte sich mit Gewalt genommen, was sie niemals freiwillig gegeben hätte. Hatte Befriedigung in ihrem Widerstand gefunden, denn es hatte ihn zu ihrem Meister gemacht.
Diesmal
gab
er Jenny einen Kuss. Zuerst fühlten sich ihre Lippen kühl und schlaff an unter der Berührung, doch Harris beachtete es nicht. Er umschloss sie mit seinem Mund, der zum Werkzeug der Fürbitte und Verführung wurde. Liebkosend und flehentlich setzte er seine Lippen und die Zunge ein, um ihre Sinne zu wecken und zu betören und Jenny die Lust zu leben wiederzugeben.
Zuerst konnte Harris nicht feststellen, welche Wirkung dieser Kuss auf Jenny hatte. Indes, seine eigenen Lebensgeister begannen erneut aufzuflackern. Sein Herz schlug schneller, und wie im Fieberwahn raste das Blut durch seine Adern mit erneuernder Kraft.
Dann fühlte er es.
Ein leichtes Zucken ihrer Zunge. Eine flüchtige Erwiderung seines Kusses. Oh, welch köstliche Empfindung! Er war vom guten Geist zum schönen Prinz geworden, und Bilder von einem glücklichen Leben zu zweit tauchten vor seinem geistigen Auge auf.
Harris war so sehr mit Jenny und seinen Bemühungen beschäftigt, ihre schwachen Lebensgeister wieder zu wecken, dass er kaum die rhythmischen Ruderschläge vernahm, die aufs Wasser trafen. Leise drangen Stimmen an sein Ohr, obwohl er die Worte nicht verstehen konnte.
Verwirrt wandte er seine Aufmerksamkeit von Jenny ab. Er blickte
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