Die schottische Braut
Jenny. “Wir müssen Land finden.”
“Das werden wir”, erwiderte Harris mit mehr Zuversicht, als er fühlte. “Wir bleiben hier, bis es hell genug ist, um zu sehen, wo die Küste ist.”
“Wie lange kann das dauern?”
“Ich weiß es nicht, Jenny. Ich habe das Gefühl, diese Nacht dauert bereits ewig. Zwei Dinge müssen wir tun, wenn wir bis Sonnenaufgang durchhalten wollen. Wir müssen uns so warm wie nur möglich halten, und wir müssen wach bleiben.”
“Wie
k…können
wir uns warm halten?”
Harris zog sie an sich und nahm sie in die Arme. “Das ist die einzige Wärme, die wir haben, Jenny. Reibe deine Hände an meinem Rücken, so wie ich es bei dir tue. Um wach zu bleiben, müssen wir uns gegenseitig helfen. Wir werden reden. Erinnerst du dich, wie schnell die Stunden vergingen, als wir über Walter Scotts Bücher gestritten haben?”
“Ja.” Jenny klang nicht völlig überzeugt. “Du scheinst recht zu haben. Ich fühle mich bereits wärmer.”
So erging es auch Harris.
Nicht nur warm, sondern sogar entschieden heiß wurde ihm. Er empfand Ärger über seine sinnliche Natur. Hier stand er nun am Rande des Abgrunds, und er sehnte sich danach, sich mit Jenny zu vereinigen. Er hoffte, dass Jenny in ihrer Unschuld nicht nach der Wölbung in seinem Beinkleid greifen würde.
“Worüber wollen wir also reden?”
Ihre Frage rief Harris in die Wirklichkeit zurück. Worüber würden sie sprechen? Sicher nicht über die Situation, in der sie sich befanden. Nicht über die geringe Aussicht, die Nacht zu überleben. Nicht über diese peinliche, doch notwendige Umarmung und die Gefühle, die diese auslöste – zumindest in ihm. Sie mussten ihre Gedanken mit etwas ablenken, was mit ihrer misslichen Lage nichts zu tun hatte.
“Ich weiß es nicht”, gestand er, “doch ich bin bereit, mich über Vorschläge zu unterhalten.”
Jenny antwortete nicht sofort.
Harris suchte verzweifelt nach einem Thema, das die Stille durchbrechen könnte. Es schien absurd, Konversation zu machen, wenn sie beide im nächsten Augenblick sterben könnten.
“Ich glaube, der Regen hat nachgelassen.” Er schob sich eine Haarsträhne zurück, die ihm ins Gesicht gefallen war. Im selben Moment tadelte er sich dafür, über derart Banales wie über das Wetter zu reden.
“Ich frage mich, ob sich so die Menschen im Alten Testament fühlten, als Gott die Sintflut sandte”, überlegte Jenny. “Ich erinnere mich, als Vater uns die Geschichte von Noah vorlas.
Alles, was einen lebendigen Odem hatte auf dem Trockenen, das starb.”
Sie erschauerte, und Harris wusste, es war nicht nur der Kälte wegen.
“Ich weiß, dass selbst Gott zuletzt Mitleid mit den ertrinkenden Wesen hatte”, fügte Jenny hinzu. “Hatte er Noah nicht versprochen, niemals wieder die Menschheit durch Flut zu vernichten?”
“Besser Wasser als Feuer.” Die Worte waren ausgesprochen, ehe Harris sich besinnen konnte.
Für einen Moment hoffte er, dass Jenny nicht ihre Bedeutung erkannte. Dann spürte er, wie sie mit ihren Fingern liebkosend über sein Kinn strich.
“Hast du daher die Narben? Durch ein Feuer?”
“Ja. Es passierte, als ich ein kleiner Junge war.”
“Erinnerst du dich, wie es dazu kam?”
Harris zögerte. Niemals hatte er über das Feuer oder dessen Nachwirkungen gesprochen. Unter anderen Umständen hätte er Jenny auch nichts davon offenbart. Doch diese zweite Begegnung mit dem Tod ließ längst vergessen geglaubte Erinnerungen wieder lebendig werden. Außerdem war es die körperliche Berührung zwischen ihnen, die ihm ein Geständnis abrang.
“Ich erinnere mich nicht mehr genau”, gestand er. “Zumindest nicht, wenn ich wach bin. Doch ich träume von dem Rauch und den Flammen. Ich erwache schweißgebadet, und mein Herz pocht, als wäre ich meilenweit gelaufen.”
“Starb deine Mutter in dem Feuer?”
Harris fühlte, dass Jenny nicht die Absicht gehabt hatte, diese qualvolle Frage zu stellen. Aus unerfindlichen Gründen fühlte er sich veranlasst zu antworten.
“Gestorben? Nein. Sie ist wohl noch am Leben.”
“Ich verstehe nicht, Harris. Wie kommt es, dass du nicht weißt, ob deine Mutter noch lebt? Wo ist sie?”
“Ich habe keine Ahnung. Sie sei nach dem Feuer fortgelaufen, sagte Vater. Wir haben niemals mehr von ihr gehört.”
“Das tut mir leid, Harris.”
Es tat ihr wirklich leid. Das spürte er. Er fühlte es, als sie das Gesicht abwandte und ihre Wange an seine Brust legte. Er spürte auch die sanfte Art,
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