Die schottische Braut
euch, dass ich Hafergrütze koche und das Ende der Geschichte von Ivanhoe erzähle.”
Ihr Angebot bewirkte, dass die Kinder in aller Stille die Sachen anzogen und sich kaum hörbar aus dem Haus stahlen. Maizie war doch noch zu Bett gegangen. Trotz der bitteren Worte, die Jenny letzte Nacht von ihr vernommen hatte, hatte sie das Baby mit sich genommen und hielt den kleinen leblosen Körper schützend in den Armen. Bei diesem Anblick durchbohrte ein Schmerz Jennys Seele.
Draußen war nichts von Kapitän Glendenning zu sehen, doch vom Wald her hörte Jenny, wie jemand Holz hobelte. Nachdem sie das Frühstück für die Kinder zubereitet hatte, und noch ehe sie die Geschichte von Ivanhoe zu Ende brachte, fühlte sie sich merkwürdig aufgewühlt.
Nach allem, was letzte Nacht vorgefallen war, gab es keinen Grund mehr, noch länger in Richibucto zu bleiben, um das Schicksal ihrer Mutter oder Mrs Glendennings zu teilen. Sie erinnerte sich an das wundervolle Gefühl, wenn Harris seine Arme um sie legte, und an seine bezwingenden Worte, die sie in Bann hielten. Konnte sie es wagen, noch einen Monat hier zu bleiben? Hätte sie genug Kraft, um Tag für Tag seinen Schmeicheleien zu widerstehen? Selbst wenn sie wusste, dass seine Anziehungskraft sie gefangen hielt und nichts als Ernüchterung und Leid über sie beide kommen würde?
“So hat also Sir Wilfred die Gunst seines Vaters zurückerlangt und Lady Rowena geheiratet. Dann lebten sie glücklich und zufrieden bis an ihr Ende”, vollendete sie hastig ihre Erzählung. “John, weißt du, wie weit es nach Chatham ist, auf dem Landweg?”
“Doch was ist aus Rebecca geworden?” wollten die Kinder wissen.
“Oh, sie hat mit ihrem Vater das Land verlassen.” Als sie merkte, dass ihre Zuhörerschar damit nicht zufrieden war, fügte Jenny ihren eigenen Nachtrag zu der Geschichte an. “Später heiratete sie einen reichen Kaufmann ihres Glaubens und lebte wie eine Königin.”
“Chatham?”, sagte John, als hätte er erst jetzt die Frage vernommen. “Ich hörte Vater sagen, dass es vierzig Meilen oder mehr sind. Man muss die Straße nach Aldouane einschlagen, und von da aus wandert man weiter. Nicht viele nehmen den Weg über das Land, Miss Lennox. Mit dem Boot ist es schneller und leichter.”
“Ich verstehe”, erwiderte Jenny. “Trotzdem vielen Dank.”
Vierzig Meilen. Nach den vielen hundert, die sie hinter sich gelassen hatte, schien diese Entfernung äußerst klein. Zwei Mal so lang wie der Weg von Dalbeattie nach Kirkcudbright, und sie hatte damals weniger als einen Tag gebraucht. Wenn es sein musste, würde sie auch irgendwo ein Nachtquartier annehmen. Sie hatte immer noch einige Goldstücke übrig, die ihr Roderick Douglas geschickt hatte.
Nachdem sie die Kinder losgeschickt hatte, um noch mehr Beeren zu pflücken, schritt Jenny zu der Hütte, wo ihre Truhe stand. Rasch streifte sie sich ein einfaches Gewand über, das zum Wandern geeignet war, und zog sich bequeme Schuhe an. Wenn die
St. Bride
die Anker lichten würde, um nach Chatham auszulaufen, würde Kapitän Glendenning sicher ihre Kiste mitbringen. Die einzigen Dinge, derer sie wirklich bedurfte, waren ihr Hochzeitskleid, ihre Schuhe und das Geld.
Sie verpackte die erwähnten Sachen in ein großes, doch leichtes Bündel, steckte die Münzen in ihre Schürzentasche und schnürte den Hut fest. Sie hoffte, dass Harris nicht zu sehr enttäuscht sein würde, wenn er bemerkte, dass sie fort war. Mit einem gewissen Schuldgefühl erinnerte sie sich an die schmerzliche Geschichte, die er ihr über seine Mutter erzählt hatte.
Was konnte sie tun, damit er sie verstand? Sie tat es für sein zukünftiges Glück genauso wie für ihr eigenes.
9. KAPITEL
Harris vermisste Jenny erst am frühen Nachmittag, als die Glendennings und ihre Nachbarn auf dem Friedhof zusammenkamen, um das Baby zu beerdigen. Als der Pfarrer mit seiner Rede begann, sah sich Harris suchend in der kleinen Menge nach Jenny um. Als man zur Bestattung schritt, hatte seine Angst einen unerträglichen Höhepunkt erreicht.
“Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub.”
Sobald die Frauen der Gemeinde sich um Mrs Glendenning drängten, trat Harris zum Kapitän. “Angus, ist Miss Lennox letzte Nacht nach Hause gekommen? Als wir John auf dem Weg trafen, bestärkte sie mich, ihn mitzunehmen. Sie wollte allein nach Hause gehen. Ich hätte sie um diese Zeit niemals in den Wäldern lassen …”
Kapitän Glendenning unterbrach seinen Redefluss.
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