Die schottische Braut
“Machen Sie sich keine Sorgen, Harris. Jenny ist zurückgekehrt, ehe Sie und John mit Grannie Girvan kamen. Sie ist ein tüchtiges Mädchen. Keiner von uns konnte etwas tun für den kleinen Donald, doch sie ging nach oben zu den Kindern und beruhigte sie, und das war sehr viel wert.”
Harris’ Befürchtungen kehrten zurück, als er nochmals die Menge nach ihr absuchte. “Wissen Sie, wohin sie gegangen ist? Haben Sie sie heute gesehen?”
Der Kapitän dachte einen Augenblick nach. Dann begann er, bedächtig den Kopf zu schütteln. “Ich hatte meine Gedanken bei anderen Dingen. Deshalb habe ich nicht darauf geachtet. Jetzt, da Sie es sagen, wird mir klar, dass ich das Mädchen seit letzter Nacht nicht gesehen habe. Vielleicht sollten Sie die Kinder fragen.”
Harris trat auf die Schar trauriger kleiner Gestalten zu und kniete sich zu ihnen hinab. “Es tut mir leid um euren kleinen Bruder. Ihr seid brave Burschen und Mädchen letzte Nacht gewesen, als eure Eltern Ruhe brauchten.”
Er holte Luft und wollte gerade nach Jenny fragen, als das älteste Mädchen ausrief: “Wir weinten zuerst, weil wir Angst hatten, doch Miss Lennox hat uns eine schöne Geschichte erzählt.”
“Ja, das war lieb von ihr.” Harris lächelte die Kinder an. Wie gut konnte er sich Jenny und sich selbst mit einer aufgeweckten Schar wie dieser vorstellen. “War sie noch bei euch, als ihr morgens aufgewacht seid?”
Lebhaft nickten die Kinder.
“Sie hat uns Hafergrütze gekocht”, lispelte die Jüngste.
“Und hat uns die Geschichte von Ivanhoe zu Ende erzählt”, warf John ein. “Dann hat sie uns zum Beerenpflücken geschickt.”
“Nach einer Weile”, warf der Jüngste ein, “kam Vater und sagte uns, dass das Baby im Himmel sei. Wir sollten nach Hause gehen und uns für die Kirche anziehen.”
“Habt ihr Miss Lennox gesehen, als ihr zu Hause wart?”
Die vier tauschten Blicke untereinander aus.
“Ich kann mich nicht erinnern”, antwortete John.
“Sie war fort”, erklärte der Jüngste in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete.
“Ja”, stimmten die anderen zu. “Sie war nirgends zu sehen.”
“Hat sie irgendetwas gesagt, ehe sie ging?”
Die Jungen schüttelten die Köpfe, doch Nellie rief aus: “Oh ja, das hat sie. Erinnerst du dich nicht, John? Gerade als sie die Geschichte zu Ende erzählt hat, hat sie dich gefragt, wie weit es nach Chatham ist.”
Chatham.
Das Wort ließ Harris schaudern.
“Ja, das hat sie.” Bei dem Ausdruck auf Harris’ Gesicht fügte der Knabe hastig hinzu: “Ich sagte ihr, es sei ein langer Weg, und niemand geht zu Fuß, wenn er mit dem Schiff fahren kann.”
Harris stand auf und gab dem verängstigten Jungen einen aufmunternden Schlag auf die Schulter. “Ich bin froh, dass du ihr das gesagt hast, John. Obwohl du schon in jungen Jahren lernen wirst, dass eine Frau, die sich etwas in den Kopf gesetzt hat, sich von den besten Ratschlägen der Welt nicht davon abbringen lässt.”
John Glendenning schien nicht zu verstehen, dass er scherzte – wenn auch nur teilweise. Trotzdem war der Junge offensichtlich erleichtert über den wohlwollenden Ton.
Harris’ Magen krampfte sich zusammen.
“Danke, dass ihr mir sagtet, was ihr wusstet.” Er nickte den Kindern zu. “Ich werde mich auf den Weg machen und sehen, ob ich Miss Lennox finde, damit sie euch noch mehr Geschichten erzählen kann.”
Er versuchte, seine Besorgnis vor ihnen zu verbergen, bis er außer Sicht war. Es machte keinen Sinn, sie zu ängstigen oder ihnen gar das Gefühl zu geben, für das Verschwinden von Jenny verantwortlich zu sein.
“Robert.” Harris trat an den Schiffsbauer heran. “Kann ich mir von Ihnen etwas Proviant leihen? Jenny ist weg, und ich fürchte, sie versucht, auf dem Landweg nach Chatham zu gelangen.”
“Nehmen Sie, was Sie brauchen, Harris.” Robert betrachtete die untergehende Sonne. “Sie sollten sich beeilen. Wenn sie einen großen Vorsprung hat, kann sie am ersten Tag weit kommen. Das ist kein leichter Weg für eine Frau, besonders nicht allein. Die meisten Indianer in der Gegend sind friedfertig, doch einigen von ihnen möchte ich nachts nicht in den Wäldern begegnen. Das gilt auch für so manche Siedler und Seeleute. Da sind mehrere Flüsse, die sie durchwaten muss – sechs mindestens, und wilde Tiere …”
Harris verweilte nicht länger und eilte davon, angespornt von den schrecklichen Warnungen. Er raffte zusammen, was er brauchte: eine Decke, ein Messer, eine
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