Die schottische Braut
später stieß eine schmale Gestalt mit ihnen zusammen. In der Dunkelheit konnte Harris die Züge des Kindes nicht erkennen.
“Wer bist du, und wohin willst du noch so spät?”
“Mr Chisholm?”, fragte das Kind, nach Atem ringend. “Miss Lennox? Ich bin es, John. Vater hat mich geschickt, um Grannie Girvan zu holen. Dem Baby geht es nicht gut.”
“Ich komme mit dir zu den Girvans, Bursche”, sagte Harris. “Du solltest um diese Zeit nicht draußen sein.”
“Danke, Harris.” Jenny suchte in der Dunkelheit nach seiner Hand und drückte sie. “Ich werde zu Maizie gehen und sehen, ob ich helfen kann.”
Als Harris und der Junge sich auf den Weg zum Fluss machten, war Jenny in gewisser Weise froh über diese Störung. Das Gefühl, geborgen in seinen Armen zu liegen und der beschwörende Klang seiner Stimme waren beinahe zu stark gewesen, um ihm zu widerstehen. Noch schlimmer war, dass sie nicht feststellen konnte, ob sie widerstehen wollte.
Bei der Erinnerung an das kranke Baby der Glendennings tadelte sie sich wegen ihrer eigennützigen Gedanken. Sie eilte den Pfad zu den Glendennings entlang und fand das Haus in Aufruhr.
Tränen liefen über Maizies Wangen, und ihre Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen, als der kleine Körper in ihren Armen krampfartig zuckte. Trotz der Schmerzen, die der Säugling hatte, schien es, als hätte er keine Luft mehr, um zu schreien.
Die anderen Kinder schrien dafür umso lauter.
Von ihren Bettchen im Speicher am anderen Ende der Kammer blickten sie herunter und weinten. Kapitän Glendenning ging hilflos auf und ab, sein Gesicht von Sorgen gezeichnet. Die stoische Ruhe, mit der er die Piraten bekämpft und den Schiffbruch überstanden hatte, war im Angesicht seines häuslichen Unglücks verschwunden.
“Alles wird gut werden, Maizie.” Jenny versuchte, überzeugend zu klingen. “Harris ist mit John gegangen, um Grannie Girvan zu holen. Sie werden bald hier sein.”
Mrs Glendenning schien sie kaum zu hören. Ängstlich blickte sie auf das wimmernde Baby und sprach stumpfsinnig vor sich hin. “Es ging ihm heute nicht schlechter als sonst. Doch als ich ihn füttern wollte, glühte er.”
Jenny hatte ihre jüngeren Brüder oftmals bei Wechselfieber gepflegt, doch so etwas hatte sie noch nie gesehen. Besser, Mrs Girvan behandelte das Kind. Doch sie brachte es nicht fertig, untätig herumzustehen.
“Wird das Baby sterben?”, rief Nellie weinend vom Speicher herab.
Vielleicht konnte sie die anderen Kinder beruhigen. Es konnte Maizie nur guttun, wenn ihr nicht fortwährend das Geschrei in den Ohren klang. Und bestimmt würde Mrs Girvan ihre Arbeit besser verrichten können. Jenny tätschelte der verzweifelten Mutter beruhigend den Arm, ehe sie nach oben stieg.
“Grannie Girvan ist auf dem Weg”, erklärte sie den Kindern mit leiser Stimme. Sie konnte es nicht über sich bringen, ihnen zu versichern, dass ihr Brüderchen am Leben bleiben würde, da sie selbst daran zweifelte. “Kommt jetzt hierher, und legt euch wieder hin. Hier ist mein Taschentuch, trocknet euch die Augen, und putzt euch die Nasen. Ihr müsst eurer Mutter dadurch helfen, dass ihr ganz still seid. Ich werde Euch eine Geschichte erzählen, damit ihr schlafen könnt. Morgen sieht alles viel besser aus.”
Leise schluchzend gehorchten sie, dann traten sie von der Brüstung zurück und scharten sich um Jenny. Angstvolle Gedanken und böse Vorahnungen schnürten ihr die Kehle zu, doch sie unterdrückte ihre Gefühle und konzentrierte sich darauf, die Kleinen zu beruhigen.
“Was seid ihr doch für gute Kinder.” Sie strich einem von ihnen eine Haarlocke aus dem Gesicht, tätschelte das andere und lächelte das dritte aufmunternd an.
Mit gesenkter Stimme begann sie, eine Geschichte zu erfinden, die sie sich von Walter Scott entlieh. “Es war einmal ein tapferer Ritter, der hieß Wilfred of Ivanhoe, und er liebte das Mündel seines Vaters, die schöne Lady Rowena, doch …”
Die Geschichte erwies sich als wirksames Mittel, die Kinder abzulenken, denn es schien, als hätten sie vergessen, was sonst im Haus vor sich ging. Selbst als die Tür geöffnet wurde und leise der drängende Klang von Stimmen zu vernehmen war, hielt ihre Aufmerksamkeit an.
Während sie sich weiterhin damit beschäftigte, die Kinder zu beruhigen, versuchte Jenny zu lauschen, was unten vor sich ging. Sie hörte, wie Maizie seufzte: “Wenigstens ist er jetzt still.”
Die alte Mrs Girvan schnalzte ohne Hoffnung mit der
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