Die schottische Braut
sich bloß ein Mittel dagegen vorstellen – sein Herz völlig vor Jenny zu verschließen. Harris schrak vor diesem Gedanken zurück. In den vergangenen zwei Monaten schien sie zu einem Teil von ihm geworden zu sein. Sie aus seinem Leben scheiden zu sehen, war deshalb so unendlich schmerzlich.
Doch manchmal war die Trennung der einzige Ausweg, um wieder zu genesen. Widerstrebend gestand sich Harris ein, dass es besser war, Jenny so schnell wie möglich nach Chatham zu bringen, damit sie aus seinem Leben verschwand.
Jenny brauchte einige Zeit, bis sie sich erinnerte, wo sie war, als fröhliches Vogelgezwitscher sie bei Sonnenaufgang weckte. Eine Flut von Erinnerungen stürzte auf sie ein. Das wachsende Unbehagen, als keine Gehöfte mehr zu finden waren. Die Erkenntnis, dass sie im Kreis gegangen war. Und das nackte Entsetzen über die Verfolgung. Dann die Erleichterung darüber, dass es bloß Harris war.
Die Gewissheit, dass er hier war, hatte sie sorglos gemacht. Nicht, dass er sich mit bloßen Händen wilder Tiere erwehren oder sie ohne Schwierigkeiten in die Zivilisation zurückführen könnte – obwohl sie nicht daran zweifelte, dass er es versuchen wollte. Schon seine Anwesenheit gab Jenny die Zuversicht, dass sie alles gelassen ertragen konnte.
Nein, nicht alles, verbesserte sie sich in Gedanken. Nicht das Leben, zu dem sie beide verurteilt wären, wenn sie ihn heiratete. Sie hegte keinen Zweifel daran, dass Harris, klug und fähig wie er war, seinen Weg machen würde. Indes nicht, wenn er von der Verantwortung geplagt wurde für eine Frau, eine Familie, sorgen zu müssen.
Leise entfernte Jenny sich von dem Schlummernden und blickte um sich. Nach dem Schrecken der vergangenen Nacht wirkte die Umgebung im Morgengrauen geradezu wohltuend auf ihr Gemüt. Die hoch emporragenden Wipfel der Pinien bildeten einen Baldachin, der den Waldboden darunter im Schatten hielt. Der Teppich aus grünem Moos und zarten Farnen war so weich wie Daunen. Anders als das fast undurchdringliche Dickicht, durch das sie sich am Vortag gekämpft hatte, ließ dieses Gebiet ein weniger beschwerliches Wandern zu.
Sie streckte sich. Es war leicht, die Spur zurückzuverfolgen, die sie und Harris letzte Nacht hinterlassen hatten. Wenn sie ihr folgte, würde sie bald das Bündel mit ihrem Hochzeitskleid finden. Sie würde ihre Habseligkeiten nehmen und sich auf den Weg machen. Oder vielleicht würde sie sich nach einem Ort umsehen, wo sie sich verbergen konnte, bis Harris seine Suche nach ihr aufgab und nach Richibucto zurückkehrte.
Sie zögerte einen Augenblick, als sie auf den Schlafenden hinabblickte. Obwohl auf seinem Kinn ein kastanienbrauner Stoppelbart zu sprießen begann, lag ein verletzlicher, jungenhafter Ausdruck in den entspannten Zügen. Wie hatte seine Mutter ihn nur verlassen können, gleichgültig wie schwer ihr Los gewesen war?
Jennys Gewissen regte sich. Immerhin war sie dabei, Harris auch zu verlassen. Würde er denken, dass sie wie seine Mutter vor seinen Narben schauderte? Der schmerzliche Gedanke ließ sich nicht so leicht verdrängen. Sie betrachtete Harris, und sie sehnte sich nach ihm, doch sie wusste, dass sie gehen musste, und zwar rasch.
“Ich tue das genauso für dich wie für mich”, flüsterte sie. “Ich wünschte, du würdest das verstehen.”
Sie wandte sich ab, schlich auf Zehenspitzen der Spur von abgebrochenen Zweigen und zertrampelten Farnen entgegen, die sie und Harris letzte Nacht hinterlassen hatten. Sie versuchte, den Schmerz in ihrem Herzen nicht zu beachten, den sie fühlte, als sie ihn verließ.
“Wohin willst du jetzt schon wieder, Jenny?” erklang Harris’ scharfe Stimme, in der unüberhörbar Verdruss mitschwang.
Die plötzlich unterbrochene Stille, zusammen mit ihrem eigenen unruhigen Gewissen, ließ Jennys Herz heftig schlagen.
“Du wirst nicht eher zufrieden sein, bis du mich vor Schreck um den Verstand gebracht hast, oder?” fauchte sie ihn an, während sie sich zu ihm umwandte.
Steif erhob er sich von seinem Schlafplatz und kratzte sich das unrasierte Kinn. “Und du wirst nicht eher zufrieden sein, als bis du mich vor Sorge um den Verstand gebracht hast.”
Unvermittelt verzog sich sein Mund zu einem unwiderstehlichen Lächeln. “Nachdem jeder von uns bemüht ist, den anderen zum Wahnsinn zu treiben, sollten wir uns vielleicht nach einem netten kleinen Tollhaus umsehen und uns dort niederlassen.”
“Darüber sollte man nicht scherzen.” Jennys vergnügtes Kichern
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