Die schottische Braut
verrückt sein, so etwas überhaupt nur zu denken, tadelte sich Harris, als er sich widerstrebend von ihr entfernte. Sogleich erinnerte ein schmerzhafter Stich ihn an sein angeschlagenes Schienbein, und er ging mit vorsichtigen Schritten zur Tür. Sobald der Sturm nachgelassen hatte, musste er etwas tun, um das Türschloss zu reparieren.
Wenig später kam er erneut die Treppe herab, eine Laterne in der Hand und ein Buch unter dem Arm. Es bedurfte nur eines kräftigen Stoßes mit der Schulter, um Jennys Tür wieder aufzudrücken. Harris hielt die Laterne hoch, als er in die Kajüte trat. Er hatte keine Lust, sich noch mehr zu verletzen oder gar mit dem Gesicht voran auf dem rutschigen Fußboden zu landen.
Jenny zuckte bei dem Lichtschein zusammen und zog die Decke über den Kopf. “Machen Sie das aus. Es ist weniger schlimm, wenn ich nicht sehe, wie alles in der Kajüte hin und her schwingt.”
Harris sah sich um. Jennys eisenbeschlagene Truhe war durch das Schlingern des Schiffes in der Mitte der Kabine gelandet. Vermutlich hatte er sich daran das Schienbein angeschlagen. Er warf der Kiste einen bösen Blick zu und schob sie an das Kopfende des Bettes.
“Ich brauche das Licht nur kurz”, sagte er zu Jenny. “Dann mache ich es aus.”
Die Decke noch immer über den Kopf gezogen, gab sie keinen Laut von sich. Harris hängte die Lampe an einen Haken, der in einem Deckenbalken steckte. Er fand einen schweren Krug mit Wasser und befeuchtete sein Taschentuch, dann löschte er die Lampe. Er tastete sich zu Jennys Kiste vor und setzte sich darauf.
“Warum gehen Sie nicht fort und lassen mich in Frieden sterben?”, fragte Jenny stöhnend. Sie musste die Decke von sich geschoben haben, denn ihre Stimme klang nicht mehr gedämpft.
“Das gehört zu unserer Abmachung.” Harris fand ihr Gesicht und wischte ihr mit dem nassen Taschentuch über die Stirn. “Ich versprach Ihrem Vater, Sie sicher in Miramichi abzuliefern.”
Er nestelte in seiner Jackentasche herum und holte eine kleine Flasche hervor. Dann stützte er Jenny und hielt sie ihr an die Lippen. “Nehmen Sie einen Schluck davon. Es wird Ihnen helfen, leichter einzuschlafen. Für diese Nacht kann ich nicht mehr für Sie tun.”
Unvermittelt richtete sie sich auf und gab prustend eine feine Fontäne des Gebräus von sich. “Was ist das für ein Zeug? Es schmeckt scheußlich!”
“Aber es hilft”, brummte Harris und wischte sich mit dem Taschentuch das Gesicht ab. “Das ist der feinste Malzwhisky – gut für verschiedene medizinische Anwendungen, eingeschlossen die Behandlung von Seekrankheit. Nun trinken Sie davon!”
Widerstrebend gehorchte sie. Harris spürte beinahe, wie sie das Gesicht verzog.
“Legen Sie sich zurück, und ruhen Sie etwas, ehe Sie einen weiteren Schluck nehmen.”
“Ich werde das nie bei mir behalten. Es brennt wie Feuer!”
“Aye”, erwiderte er trocken. “Er wird Ihrem Magen auch kräftig einheizen. Während wir warten, dass der Whisky seine Wirkung tut, müssen Sie sich von den Gedanken ablenken, wie miserabel Sie sich fühlen. Wenn ich wieder Licht machen darf, werde ich Ihnen aus dem Buch vorlesen, das ich mitgebracht habe.”
“Was für ein Buch?” wollte sie wissen.
Schwang nicht eine Spur Sehnsucht in ihrer Stimme mit?
“Eine meiner Lieblingslektüren – Walter Scotts ‘Rob Roy’.”
“Oh.”
Niemals zuvor hatte er einen wehmütigeren Ton vernommen.
“‘Rob Roy’ – das klingt wie eine spannende Geschichte. Wovon handelt sie?”
“Nehmen Sie zuerst noch einen Schluck von der Medizin.”
Resignierend gehorchte sie. Obwohl sie nach Luft schnappte, als der Whisky in ihre Kehle floss, gab sie ihn nicht wieder von sich. Harris sah das als ein Zeichen dafür, dass seine Arznei zu wirken begann.
Er zündete die Öllampe wieder an, beugte sich nach vorn, um seinen Mund nahe an Jennys Ohr zu bringen, sodass er nicht schreien musste, um den Sturm zu übertönen. Harris begann, die Geschichte von Frank Osbaldistone und seine Abenteuer mit dem Gesetzlosen Rob Roy McGregor zu erzählen. Ab und zu verfiel er in Scotts dramatische Prosa, und rezitierte ganze Kapitel aus dem Gedächtnis. In regelmäßigen Abständen hielt er inne, um Jenny wieder etwas Medizin einzuflößen.
“Fühlen Sie sich besser?”, fragte er nach einer Stunde, ohne dass sie sich wieder übergeben hatte.
“Ich fühle mich schlecht”, erwiderte sie mit schwerer Zunge, “doch nicht mehr so schlecht wie zuvor.”
“Dann werde ich
Weitere Kostenlose Bücher