Die schottische Braut
Nachricht unbeschadet in ihre Hände gelangte, würde Jenny sie beachten?
“Pardon, Mistress.”
Als Jenny von ihrer Näharbeit aufsah, rutschte sie mit der Nadel ab und stach sich in den Finger.
“Au!” Sie benetzte den verletzten Finger mit der Zunge, um den Schmerz zu lindern. “Was gibt es, Marie?” Sie sah auf die Blutstropfen, die die Stickerei verunzierten. Jenny sank der Mut.
“Madame Lyons hat sich mit heftigen Kopfschmerzen hingelegt, Mistress. Lizzie meinte, ich solle Sie fragen, ob Sie in der Küche eine Tasse Tee trinken wollen. Sie hat gerade Schwarzbeertörtchen aus dem Ofen genommen.”
Wie gern wäre Jenny von ihrem Stuhl aufgesprungen und mit Marie in die Küche gelaufen. Wie sehr sehnte sie sich nach ein wenig Gesellschaft und Unterhaltung.
Doch was würde Roderick sagen, wenn er davon hörte? Sie kannte seine Meinung nur zu gut – die Frau eines Mannes von seinem Stand sollte sich nicht mit den Dienstboten unterhalten.
“Es war freundlich von Lizzie, zu fragen, Marie.” Jenny lächelte bedauernd in der Hoffnung, es würde ihre Zurückweisung mildern. “Ich werde hier oben den Tee nehmen. Doch es hat keine Eile. Ihr Mädchen trinkt zuerst.”
“Oui, Mistress.” Jenny konnte die Enttäuschung in Maries Stimme nicht überhören und den gekränkten Blick in ihren Augen nicht übersehen.
Die Mädchen denken, ich verachte sie – ich bin mir zu gut für ihre Gesellschaft.
Vielleicht mieden die Ehefrauen der Männer in Rodericks Stellung Vertraulichkeiten mit ihren Bediensteten, doch noch war sie nicht seine Gattin. Es war noch genug Zeit, sich ein feines Benehmen zuzulegen, wenn sie es musste.
“Marie”, rief sie hinter dem Mädchen her, “ich komme doch mit und sehe nach, ob bei euch unten alles in Ordnung ist.”
Vielleicht erkannte Marie, dass Jenny die Pflichterfüllung nur vorschob, denn sie lächelte ein wenig über die Lösung. “Sie werden vielleicht die Törtchen probieren wollen, ob die Kruste nicht zu hart ist.”
“Ja. Ich möchte doch nicht, dass Mr Douglas hartes Backwerk serviert bekommt. Vielleicht werde ich auch den Tee kosten, ob er nicht zu schwach gezogen ist.”
Als Jenny und das Mädchen an der Haustür vorbeikamen, vernahmen sie ein zögerndes Klopfen. Wären sie weiter weg gewesen, hätten sie es sicher nicht gehört. Marie blickte Jenny an. Gewöhnlicherweise ging Mrs Lyons an die Eingangstür, um Besucher zu empfangen oder abzuweisen.
“Sieh nach, wer es ist, Marie”, wies Jenny sie an. “Wir wollen doch nicht Mrs Lyons Ruhe stören.”
Marie öffnete die Tür einen Spalt und wechselte einige Worte mit der draußen stehenden Person. Als sie sich wieder Jenny zuwandte, hielt sie ein Buch in den Händen.
Ein Buch!
“Der Junge sagte, dies sei für Sie, Mistress. Er konnte nicht sagen, wer es sandte.”
Jenny griff nach dem Band, ihre Hände zitterten erwartungsvoll.
“Ich bin sicher, Mr Douglas sandte es, Marie.” Jenny hoffte, ihre Lüge klang überzeugend. “Er wollte mir neben der Stickarbeit noch etwas anderes zu tun geben.”
Das Mädchen nickte zustimmend, ob sie Jenny nun glaubte oder nicht.
“Geh in die Küche und trink deinen Tee, Marie. Ich komme später nach. Ich möchte mir zuerst mein neues Buch ansehen.”
Marie machte einen kleinen Knicks und ging zur Treppe.
“Und da ist noch etwas, Marie.”
“
Oui
, Mistress?”
“Es ist nicht nötig, dies vor Mrs Lyons zu erwähnen. Du weißt, wie empfindlich sie ist, wenn jemand anders die Tür öffnet. Ich möchte nicht, dass du deswegen Ärger bekommst.”
“
Oui
, Mistress.”
Jenny kehrte ins Wohnzimmer zurück. Beinahe liebkosend strich sie über den ledernen Einband. Ihr Blick blieb an den goldenen Lettern des Titels haften. “Ivanhoe”. Nur eine Person konnte ihr dieses Geschenk geschickt haben. Und diese Person war gewiss nicht ihr Bräutigam.
“Oh Harris, du verrückter, armer Träumer”, murmelte Jenny und blätterte die Seiten durch. Sie wehrte sich gegen die süße, lebhafte Erinnerung, die sie zu überwältigen drohte. “Das hat wohl dein ganzes Geld verschlungen. Soll dies ein Abschiedsgeschenk sein?”
Ihre Kehle war ihr bei dem Gedanken wie zugeschnürt.
Sie versank in sehnsüchtige Tagträumereien und war so sehr darin vertieft, dass sie beinahe das Blatt Papier übersehen hätte, das zwischen zwei Seiten steckte.
Erstaunt faltete sie die Nachricht auseinander.
Die Handschrift unterschied sich so stark von den Druckbuchstaben eines Buches, dass
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