Die schottische Braut
erhalten, als sich nach dem anderen zu sehnen ohne Hoffnung auf gegenseitige Erfüllung.
Entfernt am Waldesrand tauchte eine kleine Gestalt auf. Sie näherte sich, hielt inne und verschwand wieder.
Eine Frau. So viel hatte Jenny erkennen können.
Ein schwarzer Schal war vom leichten Westwind aufgebläht worden. Diese Bewegungen hatten Jenny an etwas erinnert. Da war eine Frau mit einem schwarzen Schal gewesen, bei der Hochzeit, der sie und Harris beigewohnt hatten. Vielleicht hatte er Alec McGregors Einladung angenommen und hatte sich dort niedergelassen.
Plötzlich war Jenny von einem überwältigenden Drang besessen, irgendetwas Neues über Harris zu erfahren – seinen Namen zu hören und ihn selbst laut über die Lippen zu bringen.
Mrs Lyons war kurz zuvor zum Markt gegangen. Seit Harris die Stadt verlassen hatte, war Jenny nicht mehr so strikt bewacht worden. Wenn sie Luft schnappen wollte, war jetzt der richtige Zeitpunkt.
Als sie die Treppe hinabstieg, vernahm Jenny, wie die Dienstmädchen den Fußboden im Wohnzimmer für Rodericks Gesellschaft polierten. Unbemerkt schlüpfte sie durch die Küchentür ins Freie, überquerte die Wiese und schritt auf den Wald zu, wo sie die Frauengestalt gesehen hatte. Das Herz wurde ihr schwer, als sie den Platz verlassen vorfand. Vielleicht hatte sie sich die Gestalt nur eingebildet, in ihrer Sehnsucht, etwas über Harris zu erfahren. Oder aus dem Bedürfnis heraus, der erdrückenden Atmosphäre von Rodericks Haus zu entfliehen.
Mit einem tiefen Seufzer wandte sich Jenny um.
Ein leises Rascheln ließ sie zurückblicken.
Die Frau kauerte im Schatten einer dunklen Fichte. Mit gehetztem Blick spähte sie über die Wiese, wie eine Hirschkuh, die Angst vor Jägern hatte. Zögernd winkte sie Jenny heran.
“Wer sind Sie, und was wollen Sie?” Das Verhalten der Frau beunruhigte Jenny. Vielleicht war sie nicht mehr bei Sinnen?
Die Frau nahm den Schal von ihrem Gesicht. Ehe sie an sich halten konnte, rang Jenny nach Atem.
“Ich bin Morag McGregor und muss Ihnen etwas sagen, das Sie wissen sollten.”
Das entstellte Gesicht der Frau, die einst sehr schön gewesen sein musste, rief bei Jenny tiefe Betroffenheit hervor. Und die Eindringlichkeit der Stimme trug nicht zu Jennys Beruhigung bei. Langsam wich sie zurück.
“Wenn Sie je etwas für Harris Chisholm empfunden haben, sollten Sie mir zuhören, um seines Friedens willen.”
Jennys innere Stimme riet ihr, sich umzudrehen und davonzulaufen. Stattdessen stellte sie sich vor Morag McGregor und forderte sie auf: “Sprechen Sie.”
19. KAPITEL
Harris fluchte, als der Tag sich dem Ende zuneigte.
Er hatte die vergangenen Nächte genutzt, um voranzukommen. An den Sternen hatte er sich orientiert und nur für eine Stunde angehalten, wenn die Erschöpfung ihn zu übermannen drohte. Nun befürchtete er, dass er vom Weg abgekommen war. Die Zeit wurde knapp. Selbst wenn es ihm gelang, Richibucto am Morgen zu erreichen und seine Angelegenheit sofort zu erledigen, wie konnte er hoffen, rechtzeitig nach Chatham zurückzukehren, um Jennys Hochzeit zu verhindern?
Morag hatte völlig recht gehabt. Nur ein Narr konnte sich solch einer Aufgabe stellen. Ein anderer Mann hätte sie vielleicht vollbracht. Ein Mann in besserer Verfassung. Einer mit mehr Kraft und Ausdauer. Einer, der wusste, wohin er in dieser Wildnis gehen sollte.
Von Verzweiflung getrieben, beschleunigte Harris seinen Schritt. Er musste so weit wie nur möglich kommen, solange das Tageslicht noch reichte. Er begann zu laufen. Irgendwann hielt er an und rastete, als er kaum mehr die Bäume entlang des Weges sehen konnte.
Wahrscheinlich war dies die ruhigste Stunde des Tages – wenn die Singvögel sich niederließen, um die Köpfe in das Gefieder zu stecken. Bevor die Eulen und anderes Nachtgetier sich zu regen begannen. Das Einzige, was Harris vernahm, war das Knacken von Piniennadeln unter seinen Schuhen und das Zischen seines unregelmäßigen Atems.
Sein Körper schmerzte von der Anstrengung, und Harris sehnte sich nach Schlaf. Er zwang sich jedoch, nicht aufzugeben. Als die körperliche und geistige Erschöpfung zu groß wurde, um weiterzugehen, begann er, mit sich selbst zu handeln.
Nur noch zwanzig Schritte. Bloß noch bis zu der großen Kiefer. Lediglich über diesen Hügel.
Als Harris die Erhebung bestiegen hatte, marschierten seine Beine weiter, obwohl die Vernunft ihm Einhalt gebot. Plötzlich kam er auf dem unebenen Boden zu Fall. Er stürzte hinab und
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