Die Schreckenskammer
einer Hand die Augen, während er mit der anderen überschwänglich winkte. Ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.
Mit erstaunlich festem Schritt durchmaß er den kleinen Garten vor seinem Haus und kam zu mir, und obwohl ich noch auf meinem Esel saß, war ich kaum größer als er.
»Madame«, sagte er mit aufrichtiger Herzlichkeit. »Oder sollte ich Euch vielleicht Mutter nennen?«
» Mais non, Monsieur, keiner außer Eurer bemerkenswerten maman sollte diese Ehre zuteil werden.«
»Wie liebenswürdig von Euch, so freundlich von ihr zu sprechen. Und wie wahrlich wunderbar, dass Ihr mich besucht. Es ist schon sehr lange her, nicht?«
Inzwischen lächelte ich übers ganze Gesicht. »Das ist es in der Tat, Monsieur. Zu lange.«
So tauschten wir noch eine Weile Nettigkeiten aus, bis er schließlich sagte: »Vielleicht sollten wir ins Haus gehen und von anderen Dingen sprechen.«
Er bot mir seine Hand, und ich ließ mir von ihm von meinem Reittier helfen. Wenn man ein Nonnengewand trägt und von einem Esel absteigen will, gibt es wenig Hoffnung, dies mit Anmut zu tun. Irgendwie landete ich auf dem Erdboden, ohne zu stolpern.
Im Haus fand ich mich in einem Maße willkommen, wie ich es an fremden Orten nicht oft erlebte. Die Luft war frisch, aber warm und roch nach geöltem Holz. Kein Wunder – die Möbel waren schön und gut gemacht, von einer Eleganz, wie man sie vom Sohn einer Hebamme nicht erwarten würde. Die Anwesenheit einer Frau war beinahe greifbar – vielleicht hatte er sich doch eine Gattin genommen. Seine Welt hatte eine Pracht, die mich auf unerklärliche Weise glücklich machte.
Es war mir nicht bekannt, wie Guillaume seinen Lebensunterhalt verdient hatte, außer durch Handreichungen für seine Mutter, aber er musste beträchtlich verdient haben, um sich all die hübschen Sachen leisten zu können, die er angesammelt hatte.
»Wie schön Eure Möbel sind«, sagte ich.
»Oh, vielen Dank«, erwiderte er. »Die meisten habe ich selbst gemacht.«
Kaum hatte er das gesagt, war es für mich offensichtlich: Er war ein Möbelschreiner. Ich hätte es mir denken können, als ich ihn schnitzen sah. Aber es gab auch Wandteppiche und Webstoffe, wieder von einer Güte, die man nur in adligen Haushalten findet. Ich legte meine Hand auf ein fein gewobenes Tuch auf einer sehr schönen Truhe. Guillaume Karle bemerkte meine Neugier. »Mutter beklagte sich immer darüber, dass sie kaum Zeit hatte, solche Dinge zu machen. Sie lernte diese Fertigkeiten schon als sehr junges Mädchen.«
Die Fähigkeiten, solch feinen Zierrat herzustellen, findet man bei Töchtern niederer Familien normalerweise nicht. Es hatte immer Gerüchte unbekannter Herkunft gegeben, denen zufolge Madame Karle eine Herzogin oder Prinzessin sei, die davongelaufen war und sich nicht aufspüren lassen wollte. Ich glaubte diesen Klatsch nicht – Madame war viel zu praktisch, viel zu versiert gewesen in den natürlichen Dingen des Lebens, um eine solche Erziehung genossen zu haben. Und mir hatte sie persönlich gesagt, dass ihr Vater ein Arzt sei. Letztendlich war es mir ziemlich gleichgültig, woher sie stammte. Sie war eine gute Frau, die einen außergewöhnlichen Sohn aufgezogen hatte; sie verdienten beide meine ewige Bewunderung.
Ich konnte es nicht lassen, mich weiter in dem Zimmer umzusehen. Mein Blick blieb an einem sehr kleinen Porträt einer jungen Dame hängen, eine Tuschezeichnung auf Pergament in einem geschnitzten Elfenbeinrahmen. Mit einem Blick in Guillaumes Richtung bat ich um Erlaubnis, es berühren zu dürfen, und er antwortete darauf mit einem Nicken.
Sehr behutsam nahm ich es in die Hand.
Die dargestellte Frau zeigte ein feines Lächeln, wie ich es gelegentlich auf dem Gesicht der Hebamme gesehen hatte. »Madame selbst?«, fragte ich.
»Keine andere.«
Sie war wohl sehr gut getroffen, denn ich konnte mir die alte Frau vorstellen, die als junge Dame in der Blüte ihrer Jahre meine Kinder aus mir herausgeholt hatte. Obwohl die Abbildung ohne Farbe gezeichnet war, konnte ich sehen, dass ihre Haare sehr hell gewesen waren; in ihren späteren Jahren waren sie silbrig mit Strähnen des ursprünglichen Goldes darin. Ihr Ausdruck hatte eine große Würde, und Feuer blitzte aus ihren Augen, beides Wesenszüge, die ich auch aus dem persönlichen Umgang mit ihr kannte. Ich stellte das Porträt behutsam wieder auf die Anrichte zurück.
»Wenn Ihr mir jetzt sagt, dass sie noch am Leben ist, würde mich das nicht
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