Die Schreckenskammer
dass Gilles de Rais wirklich ein Ungeheuer war, der Satan in Person, und indem ich ihn so nannte, hoffte ich ihn zu entwaffnen, damit er seine Macht verlöre, meine Gefühle zu beeinflussen. Verschwunden war die mater in mir, die Frau, die dem Knaben die Tränen abgewischt und ihn in den Schlaf gewiegt hatte, wenn seine leibliche Mutter es nicht tun wollte. Ich konnte mich nicht mehr dazu bewegen, teilzuhaben an seinen Ängsten, seinen Leiden, den entsetzlichen Grausamkeiten, die sein Großvater ihm zugefügt hatte und vor denen ihn niemand – ich nicht, seine abwesenden Eltern nicht und auch kein anderer – bewahren konnte.
Psch, Kind – sie ist mit deinem Vater nach Pouzages gegangen. Aber gräme dich nicht, mein Kleiner, sie kehren in weniger als vierzehn Tagen nach Champtocé zurück, und dann seid ihr wieder vereint.
Natürlich konnte mein kleiner Schutzbefohlener gar nicht umhin zu bemerken, dass Milord Guy und Madame Marie oft René mitnahmen, wenn sie wegritten, meistens nach Machecoul. Ich argwöhnte immer, dass der kränkliche jüngere Bruder, den sie im Kindbett beinahe verloren hatte, der Mutter mehr am Herzen lag. Es gab stets Ärger, wenn dergleichen geschah – vielleicht nicht gleich bei ihrer Abreise, dann aber bei der nächsten Enttäuschung, die mit seiner vermeintlichen Vernachlässigung gar nichts zu tun haben brauchte. Schon beim geringsten Anlass schlug er mit seinen kleinen Fäusten nach mir und steigerte sich in einen Wutanfall hinein. Wenn ich versuchte, ihn zu bändigen, streckte er seine Arme in die Höhe und glitt so aus meiner Umarmung wie eine sich windende Schlange, und wenn er dann auf dem Boden landete, trampelte er, bis die Steinplatten erzitterten. Seine Eltern hatten mir verboten, ihn für diese fürchterlichen Wutausbrüche zu bestrafen, wenn sie nicht anwesend waren, auch wenn das dringend nötig gewesen wäre. Und wenn sie anwesend waren, dann konnte ihre eigene Züchtigung des Knaben im besten Fall als zaghaft und wirkungslos bezeichnet werden.
Als ich einmal angesichts seines abscheulichen Betragens mit meiner Weisheit am Ende war, beging ich einen schweren Fehler, dessen Folgen mich seitdem quälen. Ich ging zu Jean de Craon und unterbrach ihn bei seiner Buchhaltung. Als ich ihm meine missliche Lage erklärte, legte er den Federkiel nieder, fluchte laut und erklärte, das Kind werde verwöhnt bis zur Verweichlichung. Ich wartete geduldig während seiner Schmährede und hoffte, er möge zum Ende kommen, damit ich ihn fragen konnte, was ich tun sollte. Seine Unflätigkeit steigerte sich immer weiter, bis schließlich ein Schwall von Flüchen aus ihm herausbrach, die so übel waren, dass sie sogar Engel und Heilige beleidigen mussten.
Er eilte direkt in die Kinderstube, und ich folgte ihm und flehte ihn im Laufen an, milde in seiner Strafe zu sein. Wir fanden den Knaben in der Obhut des Kindermädchens, bei dem ich ihn gelassen hatte. Sie redeten leise, und er wirkte einigermaßen ruhig, was mich überraschte – war er doch so aufgeregt gewesen, als ich ihn in die Arme des Mädchens legte. Jean de Craon, der nun glaubte, ich hätte ihn ohne Grund gestört, warf mir den vernichtendsten Blick zu, den ich je erhalten hatte.
Bitte vergebt mir, Milord Jean, aber das ist eine völlige Kehrtwendung – natürlich ein Segen, aber auch sehr überraschend, da der Knabe in einem sehr erregten Zustand war, als ich ihn verließ und …
Ohne das Ende meiner Bitte um Vergebung abzuwarten, drehte Jean de Craon sich um und ging, dunkle Flüche murmelnd, zur Tür. Doch kaum hatte der Großvater uns den Rücken gekehrt, fing Gilles wieder an. Er heulte und schniefte, nur um die Aufmerksamkeit des alten Mannes zu erregen, der Anstalten machte, ihn ebenso im Stich zu lassen, wie seine Mère und sein Père es getan hatten.
Was für eine merkwürdige Verwirrung war das doch, was für eine Abkehr vom Normalen, bei der ein Kind strafende Aufmerksamkeit sucht, nur um überhaupt Aufmerksamkeit zu erhalten, wenn die erfreulichere Art nicht zu haben ist?
So abweichend diese Vorführung auch sein mochte, so war sie doch sehr erfolgreich, denn als Jean de Craon das Jammern des Knaben hörte, drehte er sich mit wutverzerrtem Gesicht um und stürzte zu ihm hin. Gilles spielte seine Rolle meisterlich, er streckte sich auf dem Boden aus und hämmerte mit seinen kleinen Füßen so fest er konnte auf die Steinplatten. Der erzürnte alte Mann hob meinen kleinen Schutzbefohlenen am Kragen in die Höhe,
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