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Die Schreckenskammer

Titel: Die Schreckenskammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Benson
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halte es übrigens nicht für so schlimm, dass Sie Durand leiden lassen wollten.«
    Er hatte wirklich gelitten. Es war mehr passiert, als in den Zeitungen gestanden hatte. Durand hatte das »Ding« durchlitten, das andere Gefangene mit Kindermördern anstellten. Garamond hatte diese Idee selbst zur Sprache gebracht; ich hatte nur von ihm verlangt, dass er, egal was er tat, zuerst versuchte, etwas über den Verbleib der Leichen herauszufinden. Er wäre zwar auf jeden Fall nach einer gewissen Zeit freigekommen, aber wir konnten das Verfahren doch beträchtlich beschleunigen. Und Jesse wollte Rache, denn es war Wilbur Durands Verbrechen gewesen, das ihn während seiner Bewährungszeit wieder ins Gefängnis gebracht hatte. Diese Rache hatte er nun bekommen.
    Doc kannte nicht alle Details, es gab zwischen uns die unausgesprochene Vereinbarung, dass ich ihm nur sagte, was ich mir von der Seele reden wollte. Ich glaube nicht, dass er wirklich in allen Einzelheiten wissen wollte, was passiert war.
    »Man hat noch eine Leiche gefunden«, sagte ich. »Damit sind es bis jetzt neun.«
    Letztendlich würden wir alle finden und sie ihren Familien zurückgeben, und das nur dank der Informationen, die Jesse Garamond aus ihm herausgeholt hatte, während er ihm das Messer ans Gemächt hielt.
    Plötzlich tauchte am nördlichen Rand des Horizonts ein Kondor auf. Er stieß auf das Ende des Piers herab und landete auf einem Pfahl. Der Vogel schlug mit den Flügeln und stieg dann wieder in den sonnenhellen Himmel. Ich dachte an den Phönix, die mythologische Darstellung unserer Sehnsucht nach Vollkommenheit, die eine absolute Illusion ist. Unerreichbar sogar für Wilbur Durand.

39
    Am Montag, dem 24. Oktober, wich mein braver Sohn die ganze Zeit nicht von meiner Seite. Seine Gegenwart und sein Trost waren die süßesten Wohltaten, die ich mir vorstellen konnte, und ich brauchte sie auch sehr, denn der Morgen würde den Abschluss des Verfahrens gegen Gilles de Rais bringen, Ritter, Baron, Marschall von Frankreich, einst Vertrauter von Königen und Herzögen und Bischöfen, jetzt aber wahrheitsgemäßer als widernatürlicher Unhold, Mörder, Ausweider und Köpfer von Kindern bekannt.
    Obwohl sein Tod von vielen begrüßt, ja herbeigesehnt wurde – nicht zuletzt auch von mir –, spürte ich doch das Vergehen jeder Minute, die ihm noch blieb, als wäre es mein Leben, das nun zu Ende ging. Mit jedem Atemzug kam der Gedanke, dass die begrenzte Zuteilung von Atemzügen wieder um einen verringert war. Eine unbeschreibliche, kalte Angst packte meine Eingeweide und lähmte mich so, dass ich mich kaum rühren konnte. Eigentlich hätte ich froh sein müssen, dass Milord nun sterben sollte für die Verbrechen, die er gegen Gott, gegen die Natur und vor allem gegen unschuldige Kinder begangen hatte, die doch immer nur auf die Güte der ihnen Übergeordneten vertrauen wollten.
    In diesen letzten Stunden seines Lebens habe ich begriffen, dass mein Schmerz vorwiegend daher rührt, dass ich mir selbst die Schuld für seine Fehler gebe. Dieser Kummer wohnte in meinem Herzen seit Beginn dieses Martyriums – ja während Milords gesamtem Niedergang –, aber erst jetzt habe ich zugelassen, dass er voll und ganz von mir Besitz ergreift. Es scheint keine angemessene Buße für mein Versagen zu geben, aber so lange ich lebe, will ich versuchen, gute Werke zu tun, reinlich zu leben, kleinen Kindern eine Hilfe und Stütze zu sein und Almosen zu geben, so weit ich das kann, damit Gott eines Tages wieder gnädig auf mich herablächeln möge.
    Als Milord Gilles im Gerichtsaal all diese Verbrechen gestand, versäumte er es nicht, auf das Verschulden der Hüter seiner Kindheit hinzuweisen. Aber ein vollkommeneres Geständnis hätte wohl auch beinhalten müssen, dass er sich schamlos weigerte, jene Triebe zu unterdrücken, von denen er wusste, dass sie Verbrechen gegen die Natur sind, auch wenn man sie sich nur vorstellt und nicht in die Tat umsetzt, wie er es getan hatte. Vor Gericht sagte er nichts darüber, wie er die Kunst des widernatürlichen Verkehrs von Jean de Craon gelernt hatte, indem er selbst der Gegenstand der Gier des alten Mannes wurde. Auch sagte er nichts darüber, wie er nach jeder Begegnung mit dem alten Ungeheuer bittere Tränen geweint hatte, fast immer in meinen Armen, auch wenn ich zu der Zeit den Grund für diese Tränen noch nicht kannte. Aber ich glaube, dass auch er auf die Güte der ihm Übergeordneten, oder im Falle Jean de Craons, der

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