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Die Schreckenskammer

Titel: Die Schreckenskammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Benson
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und für einen kurzen Augenblick trafen sich unsere Blicke. Zuerst sah ich einen Funken des Wiedererkennens – wie könnte auch jemand seine eigene Amme nicht erkennen –, und dann hielt er einen Augenblick inne, um mich zu betrachten. Es lag Zuneigung in seinem Blick, und sein Ausdruck wurde mit jedem Augenblick kindlicher. Es war, als sehne er sich zurück in die Tage unter meiner Obhut. Die Blicke jener, die ihn beobachteten – fast alle –, fielen nun auch auf mich. Schließlich zerriss Milord den Faden der Zeit, der uns verband, und ging weiter, doch ich spürte noch immer die Blicke der anderen auf mir. Ich schaute mich, Geborgenheit suchend, um, doch da ich nur prüfende Blicke fand, wandte ich mich wieder ihm zu.
    Aber er war schon zu weit vorne, um meine verzweifelte Mimik zu sehen, und ich konnte ihm nicht zurufen – das wäre für eine Frau meines Rangs unschicklich gewesen, vor allem an diesem heiligsten aller heiligen Tage. Warte, wollte ich ihm sagen, als ich sah, dass er weitergegangen war, komm zu mir zurück, mon fils de lait, wir müssen miteinander reden. Aber es war zu spät – nun war ich wieder nur eine in der Menge, die fasziniert zusah, wie unser Herr und Herrscher zum Beichtstuhl ging.
    Beklommen beobachtete ich, wie Milord und sein mitgebrachter Monsignore zum Altarraum schritten. Als sie das Ende der Schlange erreichten, wo jene warteten, welche Absolution erstrebten, traten alle, die vor ihm gekommen waren, zur Seite, um ihm Platz zu machen. Er jedoch winkte sie in die Schlange zurück. Viele dieser Bauern und einfachen Bürger machten ein verwirrtes und unentschlossenes Gesicht; würde man sie bestrafen, weil sie vor ihrem Herrn zur Beichte gingen?
    Schließlich sprach Gilles de Rais sie an, als würde er ihre Notlage verstehen: »Nehmt euren Platz wieder ein«, sagte er. Seine Stimme klang sorgenvoll und alles andere als gebieterisch. »Ich werde mit euch warten und erst dann beichten, wenn ich an der Reihe bin.«
    Tuscheln erhob sich in der Kirche – keiner seiner Vorfahren hatte je seinen Untergebenen eine solche Hochachtung bezeugt. Gilles’ Vater, Guy de Laval, war berüchtigt für seine übellaunige Behandlung von Kirchenmännern, aber selbst Milord Guy konnte kaum Schritt halten mit seinem heimtückischen Schwiegervater Jean de Craon – und ich darf wohl sagen, dass nicht einmal ein stetiger Strom uneingeschränkter Absolutionen genügt haben dürfte, um seine schlechte Seele zu retten.
    Oft wünsche ich mir, ich hätte den Mut gefunden, ihn vor seinem Tod öffentlich zu tadeln; meine Stellung in der Familie hätte mir Straflosigkeit gewährt, und der alte Mann mochte mich sowieso nie. Seine Eminenz betrachtete den Mann als Despoten und wäre wohl insgeheim erfreut gewesen zu hören, dass Jean de Craon sich eine Strafpredigt hatte anhören müssen, quasi zum Geleit für seine jenseitige Reise, die sicherlich nicht himmelwärts ging.
    Aber jetzt an diesem heiligsten der heiligen Tage trat Gilles de Rais – Enkel, Sohn, inzwischen selbst Vater, obwohl seine Tochter an diesem Morgen nirgendwo zu sehen war – nicht in die ungeduldigen Fußstapfen seiner Vorfahren. Er wartete mit untypischer Bescheidenheit inmitten des gemeinen Volkes, bis er an der Reihe war, Vergebung zu erflehen. Man findet kaum Worte, um das Gefühl zu beschreiben, das die Kirche erfüllte, als der gefürchtete und verehrte Herr von Champtocé und Machecoul und Gebieter über andere Ländereien unter seinen zitternden Leibeigenen saß und darauf wartete, vor dem Stellvertreter Gottes seine Reue zu zeigen. Ich befürchtete, dass diejenigen, die direkt vor ihm kamen, sich gezwungen fühlten, ihre Beichte zu beschleunigen, um ihn nicht zu lange warten zu lassen, und so vielleicht nur unvollständige Vergebung erhielten.
    Aber Gilles wirkte nie ungeduldig oder erregt, nur ernsthaft und sorgenschwer. Als er schließlich an der Reihe war, betrat er den Beichtstuhl, und Monsignore des Ferrières nahm auf der anderen Seite des Gitters Platz. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie wieder heraustraten; Milord war bleich wie ein Schatten, und das Gesicht des Monsignore zeigte eine sehr ernste Miene. Die Buße war einfach und kurz, aber die Sünden der Hochgeborenen waren immer schon leichter verziehen als die Sünden derer, die ihnen dienten. Vielleicht aber waren die Verfehlungen so schwer, dass die Buße nur symbolisch sein konnte. Auf jeden Fall kniete Gilles de Rais nicht lange, bevor er wieder aufstand und zu

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