Die Schreckenskammer
wie wir weitermachen sollen – wir kehren zu den früheren Zeugen zurück. Manchmal haben wir Glück, aber meistens bringt uns das nicht mehr als das Gefühl, etwas getan zu haben und den Fall nicht aus den Augen zu verlieren. Es ist schwer loszulassen, vor allem, wenn man einen Fall unbedingt lösen will und es einfach nicht passiert.
Sogar bei diesem flüchtigen Durchblättern konnte ich Terry Donnollys Frustration spüren. Er war ein sehr guter Berichteschreiber gewesen, alles war klar und prägnant und, so weit möglich, gut dokumentiert. Aber die Berichte waren gefärbt von der bitteren Wahrheit, dass das alles nichts brachte.
Junge Nummer zwei in Donnollys Karton hieß Jared McKenzie. Er machte seinen ungeklärten Abgang etwa sechs Monate vor dem Wilder-Jungen. Als ich den Vermisstenbericht las, stutzte ich angesichts der Parallelen – ich dachte, dass vielleicht etwas aus der Wilder-Akte hier hineingeraten war. Seine körperlichen Merkmale waren erstaunlich ähnlich, mit der Ausnahme, dass Jareds Haare eher rot als blond waren. Er wurde zum letzen Mal beim Verlassen eines Fußballplatzes zusammen mit seinem Trainer gesehen, ein alter Freund der Familie, der viel Zeit mit den McKenzies verbrachte und Jared oft nach Hause fuhr. Der Trainer behauptete aber, am Tag des Verschwindens nach dem Training in seine Steuerkanzlei gegangen zu sein, um Unterlagen für ein späteres Treffen mit einem Klienten zu holen. Eine andere Mutter gab an, gesehen zu haben, wie die beiden im Auto des Trainers wegfuhren, und konnte sich auch noch an die exakte Zeit erinnern, weil sie kurz davor ihr Handy, das die Uhrzeit anzeigte, benutzt hatte. Aber der Wachposten an der Arbeitsstätte des Trainers bestätigte dessen Ankunft genau fünf Minuten, nachdem diese andere Mutter ihn gesehen haben wollte. Die Fahrt vom Fußballplatz bis zum Büro des Trainers dauerte aber mindestens zehn Minuten. Unmöglich.
Kein Wunder, dass Terry Donnolly einen Herzinfarkt gehabt hatte. Was sollte er mit solchem Zeug denn anfangen?
Und was sollte ich damit anfangen?
Drei Fälle, bei denen Vertraute die ursprünglichen Verdächtigen waren und die Opfer sich auf schockierende Weise ähnelten – alles weiße Jungen von schlanker Statur. In allen drei Fällen gab es relativ wenige Indizien, was bedeutete, dass die drei Täter sehr vorsichtig gewesen waren.
Oder der eine Täter.
Ich sagte Fred, was ich dachte, und bat ihn, mir jemanden zu geben, der mir beim Abgleich der Daten helfen konnte.
»Sie glauben, wir haben es mit einem Serienentführer zu tun?«
»Na ja, es ist schwierig, es nicht zu glauben.«
»Scheint mir noch ein bisschen früh für eine solche Hypothese.«
Der Todeskuss, so zärtlich hingehaucht.
Jetzt hatte ich die undankbare Aufgabe, Leute zu befragen, die bereits einen schrecklichen Verlust erlitten hatten, mit dem Ziel, ihre alten Wunden noch einmal aufzureißen. Donnollys Berichte waren hervorragend, doch ich wollte trotzdem noch einmal persönlich mit diesen Leuten sprechen.
Zuerst rief ich Nancy Wilder an. Sie war überrascht, als sie hörte, dass Terry Donnolly gestorben war, was mir ersparte, Fred fragen zu müssen, welche Familie auf eine Neuzuteilung gedrängt hatte, ein Detail, das zu besprechen ich vergessen hatte. »Ich dachte mir, dass er bei dem Fall einfach nicht weiterkommt und wir deshalb einige Wochen lang von ihm nichts hörten«, entgegnete sie, nachdem ich es ihr gesagt hatte. »Es tut mir sehr Leid, dass er gestorben ist. Hatte er Familie?«
»Eine Frau und zwei Kinder.«
»Oh, wie schrecklich.«
»Wir sind alle ziemlich traurig deswegen. Er hinterlässt eine große Lücke.«
»Ich muss sagen, er war ein sehr aufmerksamer Detective. Sehr gründlich. Ich war sehr dankbar dafür.« Sie seufzte und schwieg einen Augenblick. »O Gott«, sagte sie schließlich. »Ich bin wirklich bestürzt. Werden Sie den Fall jetzt übernehmen?«
»Ich habe die Aufgabe, einige Sachen abzuschließen. Terrys Fälle müssen geprüft werden, damit man sie entweder schließen oder für weitere Ermittlungen neu zuteilen kann. Ich sammle Informationen, damit diese Entscheidungen getroffen werden können.«
Das war nur die halbe Wahrheit, wobei ich allerdings hoffte, dass sie für sie überzeugender klang als für mich. »Ich möchte nur gern selber hören, was Sie zu sagen haben. Detective Donnolly war sehr gut darin, alles genau zu dokumentieren, aber es ist einfach etwas anderes, wenn man mit den Familien selber spricht.
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