Die Schreckenskammer
Demien.
»Zweiundzwanzig vielleicht.«
»Er singt noch immer wie mit zwölf.«
Das war keineswegs übertrieben. Ich fragte mich, ob man ihn zum castratus gemacht hatte; falls ja, hätte es durchaus seine eigene Entscheidung sein können. Er hätte sich in einem zarten Alter dafür entscheiden müssen, bevor die Mannwerdung einsetzte.
Anscheinend waren wir nicht die Einzigen, die sich Gedanken machten über André Buchets Anwesenheit, denn überall um uns herum erhob sich Gemurmel. Als er jedoch wieder zu singen anhub, verstummte die ganze Gemeinde. Der Gesang floss seidig von seinen Lippen; die Melodie war süß und heilig, geheimnisvoll – wir alle waren völlig verzaubert.
Libera me, Domine, de morte eternal. In die ila tremenda quando celli movendisunt et terra, dum veneris, iudicare seculum, per ignem.
Dann setzte eine zweite Stimme ein, gleich darauf eine dritte, dann immer mehr, bis schließlich der ganz Chor in einem so vollkommenen Einklang sang, dass es wie sola voce wirkte, bis auf Buchets Stimme, die über allen anderen schwebte. Sie flehten Gott in unserem Namen an, uns alle vor dem ewigen Tod zu erretten und vor der Strafe des Feuers zu bewahren. Kein Hüsteln, kein Flüstern, nicht einmal das Weinen eines Kindes war im gesamten Kirchenschiff zu hören, so gefesselt waren wir alle von der Schönheit, welche die Luft durchwehte.
Aber mitten im letzten Akkord drehten sich plötzlich Köpfe. In den letzten Bänken entstand Unruhe, die sich die Reihen entlang fortsetzte etwa mit der Geschwindigkeit eines Männerschritts. Wir saßen ganz vorne, deshalb konnte ich nicht sehen, was oder wer die Ursache dieser Unruhe war. Am Mittelgang wurden Köpfe gesenkt, während eine kleine Prozession durch die sich teilende Menge schritt.
Als Erstes erkannte ich einen Priester in weißem Ornat – ein gewisser Monsignore Olivier des Ferrières. Das war an und für sich schon Grund für Getuschel, denn er war ein Schurke, locker im Glauben und berüchtigt dafür, dass er sich mit dunkleren Elementen zusammentat, als es seinen Vorgesetzten lieb sein konnte. Mehr als einmal hatte Seine Eminenz erwogen, ihn aus dem Priesterstand zu verstoßen.
»Er gehört weder zu dieser Pfarrei«, flüsterte Frère Demien überrascht, »noch zu einer anderen, die ich kenne.«
Ich zuckte die Achseln zum Zeichen meiner eigenen Verwunderung. Dann stellte ich mich auf die Zehenspitzen und reckte den Hals, um weiter nach hinten sehen zu können. Der letzte Ton des Chorgesangs hing in der Luft, ein bittersüßer Nachhall.
» Mon Dieu « , hörte ich mich selbst sagen. Ich merkte, wie meine Hand an meine Brust fuhr und die vertraute schützende Geste machte, zuerst von oben nach unten, dann von links nach rechts.
Das Herz klopfte mir plötzlich bis zum Hals. Milord Gilles de Rais ging langsam hinter Des Ferrières her, und jeder zögernde Schritt brachte ihn näher zum Altar. Er hob sich von den anderen in seiner Umgebung dank einer unbeschreibbaren Besonderheit ab, die mehr zu tun hatte mit seinem Rang als Edelmann und Held Frankreichs denn mit irgendeinem körperlichen Merkmal. Er war kein übermäßig großer Mann, nur wenig mehr als der Durchschnitt, aber er hatte etwas unbestimmbar Aufmerksamkeit Heischendes an sich. Seine dunklen Haare, der Mode entsprechend knapp über dem Kragen seines Umhangs gestutzt, standen in starkem Gegensatz zur Blässe seiner Haut, die in letzter Zeit nicht in Kriegen gebräunt worden war. Er trug Rot an diesem Tag, von einem Ton fast wie frisches Blut. Sein Gesicht zeigte einen Ausdruck, der mehr zum Tag der Kreuzigung unseres Herrn gepasst hätte denn zum Tag seiner Wiedergeburt. Milord war den Tränen nahe, das sah ich.
Niemand hatte erwartet, dass er hierher kommen würde, um die Auferstehung unseres Herrn von den Toten zu feiern. »Warum ist er nicht in Machecoul in seiner eigenen Kapelle?«, fragte ich mich laut.
»Er darf feiern, wo es ihm beliebt, Schwester.«
»Aber hier und heute, unter den Augen von Jean de Malestroit, da doch noch immer so viel Geringschätzung zwischen den beiden herrscht?«
Etwa auf halber Höhe des Mittelgangs blieb er stehen und drehte sich um. Sein Blick wanderte hoch zum Chor, und als seine Augen André Buchet fanden, schien Milords Körper zusammenzusacken wie unter einer großen Last.
Hierin lag also die Erklärung für seine unerwartete Anwesenheit.
Frère Demien beugte sich zu mir und sagte: » Je regrette, Guillemette, ich weiß, dass Ihr Milord sehr liebt.
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