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Die Schrift an der Wand

Die Schrift an der Wand

Titel: Die Schrift an der Wand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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Augenblick saßen wir stumm da.
Dann nickte sie zum Teller. »Bitte schön.«
»Danke.« Ich nahm ein Brötchen mit Ziegenkäse und roter
Beete. »Sie haben offensichtlich noch nichts von ihr gehört?«
»Nein, hab ich nicht … Und Sie? Haben Sie mit jemandem
gesprochen?«
Ich nickte. »Mit Åsa und ihren Eltern und mit Helene Sandal.«
»Und … konnten sie Ihnen irgendwas sagen?«
»Vorläufig habe ich mehr Fragen als Antworten.«
»Wie zum Beispiel –«
»Diese Liste, von der wir beim letzten Mal sprachen, von ihren
Freundinnen. Haben Sie die fertig?«
Ihr Blick glitt an mir vorbei zu den Regalen an der Wand, wo
Fotografien ihrer Kinder versammelt standen. »Nein, ich – Als
ich anfing, die Klassenliste durchzugehen, ging mir auf, daß …
ich keine Ahnung hatte. Noch vor ein paar Jahren, in der
Grundschule, hätte ich auf Anhieb fünf bis sechs Namen
auflisten können. Als sie bei den Pfadfindern war, noch ein paar
mehr. Aber jetzt … Mir wurde plötzlich klar, wie wenig ich sie
kannte, so jedenfalls. Ich meine, mit wem sie zusammen war.
Mir fällt tatsächlich niemand außer Åsa ein.«
»Und was ist mit Astrid Nikolaisen?« fragte ich und biß von
meinem Brötchen ab.
»Astrid Nikolaisen … tja … Für mich ist sie nichts weiter als
ein Name. Sie war nie hier. Ich weiß, daß sie eine von Torilds
Freundinnen in der Klasse ist, das heißt, seit sie in die Siebte
gekommen ist, aber … Ich glaube, ich kann nicht mehr dazu
sagen.«
Ich schluckte. »Haben Sie vielleicht ihre Adresse?«
Sie sah zum Wandregal. »Doch, sie steht wohl auf der Klassenliste … Aber warum …«
»Hören Sie, Sidsel … Ist es in Ordnung, daß ich Sie so nenne?«
Sie nickte.
»Helene Sandal hat angedeutet, daß Torild bei einigen Gelegenheiten Symptome von Drogenmißbrauch gezeigt habe …«
Sie streckte die Hand nach der Kaffeetasse aus, überlegte es
sich dann aber anders. »Tja, das … das wurde nie … Wir sind
der Sache nie auf den Grund gekommen.«
»Aber sie hat Sie beide zu einem Gespräch bestellt.«
»Ja. Aber nur ich bin hingegangen.«
»Ihr Mann …«
Es zuckte leicht in ihren Mundwinkeln. »Holger war beschäftigt. Es war ja auch abends, und da war er meistens in der
Redaktion.«
»Aber es kam nichts dabei heraus?«
»Nein.«
»Haben Sie hinterher mit Torild darüber gesprochen?«
»Selbstverständlich! Aber sie stritt es hartnäckig ab. Das sei
nur etwas, das Frau Sandal erfunden habe, weil sie sie nicht
leiden könne. Oder weil sie mit ihren schulischen Leistungen
unzufrieden sei. Ich konnte nicht …« Sie sah mich mit ihren
großen, blauen Augen unsicher an. »Ich konnte sie nicht
zwingen, es zuzugeben!«
»Und eine Weile später bekamen Sie erneut einen Anruf?«
»Ja, und wir machten die gleiche Prozedur noch einmal durch,
mit dem gleichen Resultat.«
»Und das Ganze hat Sie nicht mißtrauisch gemacht?«
»Mißtrauisch? Ich war in Sorge, natürlich! Sie haben ja selbst
… Sie wissen sicher selbst, wie das ist. Nachts aufzubleiben und
sich zu fragen, ob sie wohl nach Hause kommt oder nicht, wo
sie sein könnte, mit wem sie zusammen ist. Sich die schlimmsten Dinge vorzustellen, wie man es in solchen Situationen
immer tut … Ich kann die Male nicht mehr zählen, wo ich sie
vor mir gesehen habe, blutend, mißhandelt, vergewaltigt oder in
einem demolierten Auto. Und wenn sie endlich kommt, dann
bist du so froh, daß nichts passiert ist, daß du ihr die Verspätung
nachsiehst und daß sie nach Bier und Zigaretten riecht und du
keine Ahnung hast, wo sie gewesen ist. Denn wenn man fragt,
dann antwortet sie einfach … irgendwas.«
»Irgendwo, meinen Sie?«
»Ja. Fete. Diskothek. Snackbar.«
»Nichts Regelmäßiges?«
»Nein. Und du denkst an die Zeit, als sie klein war, wie glücklich du warst, als sie geboren wurde … sie war schließlich die
erste! Wie du sie angezogen hast, die ersten Schuhe, die
vergoldet da hinten im Regal stehen …«
Ich sah in die Richtung. Sie waren so klein, daß sie einer
Puppe gehört haben könnten.
»Alle Fotos … ich glaube, ich habe zusammen mindestens
zwanzig Alben, Veum! Der erste Tag im Kindergarten, in der
Schule, immer gleich strahlend und freundlich, aber dann … die
Konfirmation letztes Jahr, als sie darauf bestand, bürgerlich
konfirmiert zu werden, und Holger so sauer wurde, daß er das
letzte halbe Jahr fast nicht mit ihr geredet hat. Sie können das
auf dem Bild von uns fast sehen. Den Trotz, der aus ihrem Blick
leuchtet.

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