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Die Schrift an der Wand

Die Schrift an der Wand

Titel: Die Schrift an der Wand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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zuckte mit den Schultern. »Solche Dinge geschehen ja
schließlich nicht über Nacht. Sie brauen sich zusammen, wie ein
Unwetter.«
»Und Torild war auf See, in einem offenen Boot?«
Sie sah mich verständnislos an. »Wie?«
»Ich meine … Wie nahm sie es auf? Reagierte sie irgendwie
auffällig?«
Sie sah traurig vor sich hin. »Nein, ich – Na ja, wie ich gestern
sagte, sie wurde irgendwie etwas … ja, abwesender. So als
würde sie sich ausklinken, noch mehr, aus dem, was noch an
Familienleben übrig war. Sie war abends noch öfter weg,
brachte nie jemanden mit nach Hause, und kam selbst spät
zurück.«
»Und die anderen Kinder … reagierten die genauso?«
»Nein, das war es ja gerade.« Sie wandte ihren Blick zum
Fenster und sah hinaus.
Als sie sich wieder mir zuwandte, konnte ich deutlich die
Angst in ihren Augen sehen. Sie ballte die Faust vor der Brust.
»Wenn so was passiert, dann fragt man sich ja selbst … ist es
mein, oder unser Fehler? Was haben wir falsch gemacht? Aber
die anderen sind doch ganz genauso erzogen worden! Stian, na
ja, er ist zehn, und ich meine … Er ist vollkommen abhängig
von Mama und – Papa. Während Vibeke – sie kommt wunderbar zurecht, nimmt die Situation zum Anlaß, nachzudenken, und
ist in der Schule genauso gut, wie sie es immer war. Also was ist
dann der Grund?«
Ich hob hilflos die Hände. »Veranlagung. Umgebung, und da
denke ich nicht unbedingt an die Familie. Ihre Freunde. Die
Lehrer. Es ist so unglaublich viel, was mit hineinspielen kann.
Die Schuld kann man sowieso äußerst selten irgendwo festmachen. Da gibt es immer mehrere Komponenten.«
Sie nickte. »Ja, das ist wohl wahr.«
»Haben Sie heute mit Ihrem Mann gesprochen?«
»Ja, ich spreche im Moment jeden Tag mit ihm … darüber.«
»Haben Sie ihm von mir erzählt?«
»Nein, ich … Er hat angefangen, davon zu reden, daß wir …
Daß die Polizei eingeschaltet werden sollte.«
»Das kann ich gut verstehen.«
»Aber Sie haben selbst gesagt –«
»Anders ausgedrückt: Die Polizei hat etwas, das ich nicht
habe, nämlich einen Apparat. Das bedeutet, daß sie über ihr
ganzes Netz eine Suchmeldung rausschicken kann, auch in die
anderen nordischen Länder, mit einer durchschnittlichen
Erfolgsquote, an die ich nicht im Traum heranreiche. Auf der
anderen Seite: Bevor nicht sicher ist, daß etwas passiert – ich
meine, daß etwas Ernstes geschehen ist –, wird sich die Polizei
wohl kaum die Zeit nehmen, so genaue Nachforschungen
anzustellen, wie ich es jetzt tue.«
»Also …«
»Ich möchte Ihnen dringend empfehlen, sie von der Polizei
suchen zu lassen, aber lassen Sie mich auch weitermachen. Es
sei denn, Sie wollen die Ausgaben lieber einsparen.«
»Das Geld spielt keine Rolle«, sagte sie schnell. »Das Wichtigste ist, daß wir sie finden, und daß es ihr gutgeht.«
»Ich sollte wohl mittlerweile selbst mal mit Ihrem Mann
sprechen.«
»Wenn er Zeit hat«, sagte sie säuerlich. »Außerdem glaube
ich, ich kann Ihnen fast garantieren, daß Sie Ihre Zeit vergeuden.
Er hat nichts über Torild zu sagen, was ich Ihnen nicht auch
erzählen könnte.«
»Nein? Aber es kann doch sein, daß Sie etwas übersehen
haben, was ihm einfällt?«
»Mmh«, sagte sie in einem Tonfall, der andeutete, daß sie sich
das nicht vorstellen konnte.
Ich stand auf, mit einem letzten Blick auf Torilds drei Lebensstadien, die immer noch vor uns auf dem Tisch standen. »Tja,
dann werd ich wohl …«
Das rätselhafte Geschlecht. Werden wir sie jemals wirklich
kennenlernen? Oder würden sie immer irgend etwas vor uns
verborgen halten, etwas, das wir vielleicht einmal gewußt, aber
unterwegs auf der Entwicklungsleiter vergessen hatten?
Sie begleitete mich zur Tür. »Sie rufen an, sobald Sie etwas
Neues zu berichten haben?«
»Selbstverständlich.«
Unten an der Ampel, die den Verkehr im Saedalsvei nur
notdürftig reguliert, blieb ich bei Rot stehen und wartete.
Plötzlich kam mir der Gedanke, daß gewisse Situationen im
Leben ganz genauso sind. Man steht bei Rot und wartet, und
wenn es endlich grün wird, kommt ein verspäteter Lastwagen,
trifft einen frontal, und man hat nicht die geringste Chance.
Als es Grün wurde, fuhr ich mit besonderer Vorsicht um die
erste, unübersichtliche Kurve.
6
    Die Bewohner von Mansverk mochten es nie, wenn die Gegend
bei ihrem ursprünglichen Namen genannt wurde: Krötenmoor.
Aber damals, Ende der fünfziger Jahre, als wir uns mit ein paar
Jungs von da oben um ein paar

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