Die Schrift an der Wand
Ich hatte eigentlich das Gefühl, daß sie schon vorher am Schwimmen war.«
»Und was meinen Sie mit am Schwimmen?«
»Tja, ich … Als ich sie in der Siebten bekam, war sie eine
ganz normale Schülerin, fachlich gesehen besser als der Durchschnitt, gar kein Zweifel, nett und freundlich und … wie gesagt,
ganz normal. In der achten Klasse … Das ist eine etwas schwierige Klassenstufe. Wer die Neigung hat, der Schule überdrüssig
zu werden, wird es häufig in dieser Klasse. Die Grundschuljahre
sind endgültig vorbei. Die Lehrer stellen strengere Anforderungen. Aber gleichzeitig wirkt der Weg bis zum Ende der 10. noch
sehr weit. Ich will nicht sagen, daß Torild zu denen gehörte, die
die Schule satt hatten. Sie machte ihre Aufgaben pflichtbewußt,
jedenfalls die schriftlichen. Mit den mündlichen war sie
manchmal ein wenig lasch. Aber besorgniserregender war der
Eindruck, daß sie – wie soll ich sagen – sich ausklinkte? Sie war
in den Stunden unaufmerksam, und sie … Oft konnte ich an
ihrem Blick sehen, daß sie völlig abwesend war.« Sie sah aus
dem Fenster. »Sie saß nur da und schaute raus.«
Ich folgte ihrem Blick. Auf den Bäumen des Tals bis hinunter
nach Sandalen lag eine weiße Rauhreifdecke. Das gesamte Bild
hatte etwas Unveränderliches, als sei die Zeit freiwillig stehengeblieben, und als habe eine Phase des ewigen Frostes
begonnen.
»Sie sind doch sicher im Bilde … Hatten Sie den Eindruck,
daß Drogen mit im Spiel waren?«
Sie nickte schwach. »Ich würde es nicht ausschließen.«
»Haben Sie die Eltern davon unterrichtet?«
»Ja. Ich hatte ein Gespräch mit der Mutter.«
»Mit dem Vater nicht?«
»Nein. Es war ihm nicht möglich, zu kommen.«
»Gab es danach eine Veränderung?«
»Eine Weile wurde es vielleicht besser. Sie schien sich zusammenzureißen. Aber dann … dann fing es wieder an.«
»Und Sie haben die Eltern noch mal darauf angesprochen?«
»Ja, aber … Diesmal nur telefonisch. Es sind uns trotz allem
Grenzen gesetzt, wieweit man sich um jeden einzelnen Schüler
kümmern kann. Es gibt andere, die zum Beispiel fachlich viel
größere Probleme haben. Und noch andere kommen aus
instabilen Familienverhältnissen. Wir haben Einwandererkinder
und einen Integrationsfall mit einer Körperbehinderung. Kurz
gesagt –«
Eine Schulglocke läutete. Sie stand auf. »Ich muß gehen. War
sonst noch etwas?«
»Ja, selbstverständlich. Können Sie mir noch ein paar Minuten
schenken?«
»Na ja, okay.« Sie blieb stehen, wie um zu unterstreichen, daß
es nicht viele werden durften.
»Ich möchte nur wissen … Hatte sie enge Freundinnen, vielleicht welche, die sie beeinflußt haben? Haben Sie noch bei
anderen ähnliche Anzeichen festgestellt?«
Ihr Gesicht verspannte sich ein wenig. »Ich kann mich nicht
genauso frei über andere äußern, ohne die Erlaubnis der Eltern.«
»Ich habe schon mit Åsa Furubø gesprochen. Sie waren viel
zusammen, wie mir scheint.«
»Ja, das stimmt wohl.«
»Gab es andere?«
»Astrid vielleicht. Nikolaisen.«
»Wie ist sie?«
»Wie gesagt, ich kann nicht … Aber«, sie tippte mit dem
Zeigefinger auf ihre Armbanduhr, »ich muß gehen.«
»Gibt es eine Möglichkeit, Astrid und Åsa hierher zu schicken? Damit ich mit ihnen sprechen kann?«
»Åsa vielleicht. Astrid fehlt heute.«
»Ach ja? Wie lange fehlt sie denn schon?«
»Seit gestern. Diese Woche«, sagte sie trocken.
»Torild war ja auch nicht in der Schule an dem Tag, als sie
verschwand. Kam das häufiger vor?«
»Ziemlich oft. Aber sie hatte hinterher immer Entschuldigungen dabei.« Mit einem bitteren Lächeln fügte sie hinzu: »Aber
nach dem, was ich jetzt gehört habe, waren sie vermutlich
gefälscht.«
»Ich verstehe. Ist es in Ordnung, wenn ich dieses Büro benutze?«
Sie sah sich um. »Wenn niemand sonst hier rein will, dann –
Ich denke, ja. Wenn Sie warten, dann schicke ich Ihnen Åsa
her.« Mit einem kurzen Nicken verließ sie mich.
Ich stellte mich in die Türöffnung und wartete. Das Lehrerzimmer war so gut wie leer. In einer Sofaecke saß ein
verhältnismäßig junger Mann in kariertem Flanellhemd und
brauner Cordhose und las Zeitung. Auf den Tischen lagen eine
Handvoll Zeitschriften und ein paar Tageszeitungen. Die Tische
waren mit kleinen Kreuzstichläufern und einem nicht brennenden Teelicht in der Mitte dekoriert, und an einer Kante stand
eine in Eile zurückgelassene Kaffeetasse. Vermutlich die von
Helene Sandal.
Der Mann mit der christlichen Tageszeitung sah
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