Die Schrift an der Wand
hinunter nach Nordvik und Lysefjord. In einer
Kurve, ein oder zwei Kilometer von der Spitze entfernt, standen
zwei Autos am Straßenrand, ein Streifenwagen und ein Zivilfahrzeug. Ein uniformierter Polizist stand in der Mitte zwischen
den Wagen, als würde auch er dort parken.
Er folgte uns mit dem Blick, bis ich an die Seite fuhr und
hinter den beiden anderen parkte. Dann setzte er sich augenblicklich in Bewegung und kam auf uns zu. Als wir aus dem
Wagen stiegen, sagte er: »Tut mir leid, aber das Gebiet ist
gesperrt für alle, außer für die Polizei.«
»Dies ist die Mutter der Toten«, sagte ich mit einer kleinen
Handbewegung in Sidsel Skagestøls Richtung.
Der junge Polizist errötete. »Na ja, dann … Tut mir wirklich
leid, aber ich kann Sie wirklich nicht hinter … Aber Sie können
natürlich schauen …« Er räusperte sich. »Ich meine, Sie
verstehen sicher … Wir sind da unten immer noch bei der
Spurensicherung. Um keine Spur zu übersehen«, sagte er direkt
an Sidsel Skagestøl gewandt.
Sie nickte, sah aber weder ihn noch mich an. Ihr Blick ging in
Richtung der steilen Böschung auf der anderen Seite des
Kantsteins. Mit einem Gesichtsausdruck, als würde ihr kurz
schwindelig, bewegte sie sich langsam auf den Straßenrand zu,
leicht hintenübergebeugt, als habe sie Angst, dem Sog von dort
unten nachzugeben.
Ich folgte ihr diskret, während ich den Blick des Polizisten im
Nacken spürte. Er sagte nichts, aber er würde sich sicher
bemerkbar machen, wenn wir versuchten, das rotweiße Markierungsband aus Plastik zu übertreten, das den Tatort für die
Polizei abriegelte.
Von der Bordsteinkante sahen wir einen steilen Hang hinunter
auf eine neugepflanzte Fichtenschonung. Unter der Straße lag
ein Betonkanal für einen der Bäche aus dem Berg hinter uns.
Um die Tunnelöffnung herum waren zwei Personen in Zivil
dabei, minutiös das abzusuchen, was der genaue Fundort sein
mußte, der unterhalb der Straße lag.
Ich bemerkte es sofort. Etwas stimmte nicht.
Ich drehte mich um und sah quer über die Straße. Dort erhob
sich die Fjellwand schräg zur Spitze des Fanafjells, und die
Bäume standen wie hohe, dunkle Wachposten bis an den
Straßenrand.
Langsam richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf Sidsel
Skagestøl. Sie stand gerade und reglos da, fast apathisch und
starrte die Böschung hinunter, nicht viel anders als eine Selbstmordkandidatin, die auf einer Brücke steht und sich überlegt, ob
es sich lohnt, zu springen. Unter der Fassade schlugen die
Gefühle wie schäumende Wellen gegen die Felsen, mit so
großer Kraft, daß die Schaumkronen bis in ihre Augen spritzten.
Aber sie sprang nicht; sie stand nur da, einsam und würdevoll,
als sei sie schon auf dem Friedhof und nähme vor der endgültigen Beisetzung zum letzten Mal Abschied.
Sie warf einen raschen Blick zur Seite, wie um sich zu versichern, daß ich es war, der da stand. »Ich kann es mir irgendwie
nicht vorstellen.«
»Das ist sicher besser so«, sagte ich leise.
»Sie ist nicht hier gestorben …«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Dies ist nur ein Lagerplatz – für ihren Körper. Sie selbst ist
nie hier gewesen. Nicht die eigentliche Torild.«
»Da haben Sie ganz recht. Jetzt, wo Sie es gesehen haben,
finde ich, sollten Sie das Bild dieses Ortes wegwischen – nicht
aus der Erinnerung, denn das werden Sie vermutlich nicht
schaffen, jedenfalls lange Zeit nicht, aber aus Ihrem Bewußtsein,
von dem Ort, wo Sie sind – und wo Ihre Tochter auch auf
irgendeine Weise immer sein wird.«
Sie wandte mir ihr Gesicht ganz zu. Zum ersten Mal an diesem
Tag sah sie mir gerade in die Augen, und der Schatten eines
Lächelns legte sich über ihren Mund. »War das der Sozialpädagoge in Ihnen, der da gesprochen hat?«
Ich erwiderte ihr Lächeln. »Wahrscheinlich. Aber er hat
meistens recht. In meinem Innern, meine ich.«
Während der Rückfahrt beschäftigte mich nur ein einziger
Gedanke: Die Polizei mußte es doch auch gesehen haben? Daß
etwas nicht stimmte!
Ich fuhr sie nach Hause. »Soll ich Sie reinbringen?«
»Das ist wohl nicht nötig.« Sie sah zur Pforte, wo Holger
Skagestøl uns schon entgegenkam.
»Wie geht es dir, Sidsel?« fragte er. »War es okay?«
Ein Zucken lief über ihr Gesicht. Sie wurde zu einer ausgeschnittenen Papierfigur, die jemand mit einer unvermittelten
Handbewegung zusammengeknüllt hatte. »Warum sollte es
nicht? Es war nur ein Ort, oder? Du kannst ruhig selber mal
hinfahren. Du findest Torild
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