Die Schrift an der Wand
nicht – auch da nicht!«
Er machte eine linkische Handbewegung und sah niedergeschlagen in meine Richtung, um sich dann wieder an sie zu
wenden. »Die Kinder sind tapfer. Alva ist auch drinnen. Ich
habe sie angerufen und gebeten …«
»Oh! Auch das noch!«
»Die Kinder können heute nacht da schlafen, Sidsel. Du
kannst dich richtig ausruhen.«
»Wer ist Alva?« fragte ich.
»Meine Schwester«, sagte Skagestøl kurz.
»Es könnte gut sein, daß es das Beste für Sidsel wäre, mit den
Kindern zusammenzusein.«
»Und was geht Sie das an, Veum?«
»Nichts, genaugenommen, aber sie war vollkommen ruhig
jetzt, während der Fahrt.«
Er lief rot an. »Vollkommen ruhig jetzt! Was wollen Sie damit
andeuten?«
Er kam mit einer abrupten Bewegung auf mich zu, als wollte
er mich angreifen.
Ich zog mich sofort ein, zwei Schritte zurück.
»Herrgott noch mal, Holger! Benimm dich nicht wie ein Idiot!
Komm jetzt! Wir können Alva ja wohl schlecht allein da
drinnen sitzenlassen, oder? Sie könnte den Kindern ja ein Loch
in den Bauch reden!«
Holger Skagestøl nahm sich zusammen, warf einen letzten,
irritierten Blick in meine Richtung, kehrte mir dann den Rücken
zu und folgte seiner Frau durch die Pforte. »Sie liest ihnen vor,
Sidsel!«
Keiner von beiden nahm sich die Zeit, sich richtig von mir zu
verabschieden. Meine Aufgabe als Chauffeur war erfüllt, ein
besonderer Spurensucher war ich auch nicht gewesen. Im
Grunde gab es absolut keinen anderen Grund, mir dankbar zu
sein, als meine schiere, zufällige Anwesenheit.
Ich setzte mich ins Auto, fuhr rückwärts in eine Einfahrt, um
zu wenden, und während ich langsam den steilen Hang nach
Sædal hinunterfuhr, dachte ich: Sie müssen es doch gesehen
haben! Die Polizisten!
16
Sollte ich es riskieren, sofort bei Muus anzurufen, auf die
Gefahr hin, bei der erstbesten Gelegenheit eins auf die Schnauze
zu kriegen? Oder sollte ich tun, was er mir gesagt hatte: mich
um meinen eigenen Kram kümmern?
Das Problem war, daß ich im Moment keinen eigenen Kram
hatte, und Müßiggang ist aller Laster Anfang. Die Todesanzeige,
die ich mit der Post bekommen hatte, schwelte wie eine Androhung des Jüngsten Gerichts in meiner Schreibtischschublade,
und ich hätte sie am liebsten völlig vergessen.
Ich rief Paul Finckel an.
»Meine Güte!« stöhnte er. »Ist heute der große Hab-mich
lange-nicht-beim-Paul-gemeldet-Tag, oder was? Oder hast du
mir was Neues zu berichten?«
»Nein. Ich habe nur bei der Fundstelle eine Entdeckung gemacht.«
»Was? Doch wohl nicht ganz unten?«
»Nein, nein.«
»Na, denn da sollte für alle abgesperrt sein!«
»War es auch.«
»Und, bist du allein hingefahren, oder was?«
»Nein, mit der Mutter. Sie war es, die mich engagiert hatte.«
»Mit der Mutter? Und wie hat sie es verkraftet? Ist dir klar,
daß das hier ein verdammt guter Artikel werden kann, Varg?«
»Du kennst mich doch, Paul. Ich will nicht in die Zeitung!«
»Du bist ein Teil der Informationsvermittlung, Varg! Du
kannst nicht verhindern, daß …«
»Doch, wenn du auch nur das Geringste von mir haben willst,
dann kann ich das sehr wohl verhindern.«
»Schon gut, aber erzähl mir wenigstens …«
»Sie hat es soweit gut verkraftet, Paul. Schockiert und traurig,
natürlich, aber ganz normal, für eine Mutter, die gerade ihre
Tochter verloren hat. Das ist alles, Paul. Mehr hab ich nicht zu
erzählen.«
»Also weshalb zum Teufel rufst du mich dann an?«
»Um dir noch eine Frage zu stellen.«
»Ja, hab ich’s mir doch gedacht!« Er raschelte etwas mit dem
Hörer. »Also, dann mal los, keine falsche Bescheidenheit,
spuck’s aus, erzähl’s dem Onkel!«
»Ihr Presseleute habt es doch immer so mit den Augenzeugen.
Dieser Jogger, der die Leiche gefunden hat, kennst du seinen
Namen?«
»Den Namen? Ich weiß nicht mal, was für Joggingschuhe er
trägt. Die Polizei hat nicht die klitzekleinste Information über
ihn durchsickern lassen.«
»Aber es ist ein Mann?«
»Tja, jedenfalls hieß es immer er, als ich das erste Mal mit der
Polizei sprach.«
»Aber du hast da doch sicher deine Quellen? Keine Leckage?«
»Nicht ein Tropfen, Varg, nicht ein … Ziemlich auffällig
eigentlich, findest du nicht?«
»Doch, genau das finde ich nämlich auch.«
Aber hinterher fühlte ich mich beruhigt. Die Polizei hatte es
auch gesehen.
Zumindest war Müßiggang auf jeden Fall der Anfang von
rastlosen Wanderungen – auf und ab in meinem Büro.
Ich sah zum Nordnes-Kalender an der Wand. Vielleicht
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